„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg
„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg
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die eklatante Durchschlagskraft dieses Werkes ganz massgeblich. 709 Auf der anderen Seite<br />
entspricht die narrative Technik der Kontrastbildung dem manichäischen Denken aus der<br />
Zeit des Kalten Krieges, welches auch für <strong>Meienberg</strong>s politische Einstellung kennzeichnend<br />
war: gut und böse, Opfer und Täter, unten und oben. Es sind derartige binären Kategorien,<br />
welche hinter der rigorosen Sicherheit seines Urteils standen und auch in der ästhetischen<br />
Struktur seiner Werke konstatiert werden können.<br />
3) Die zentralen Merkmale der rhetorischen Interventionsstruktur von Ernst S. und Wille und<br />
Wahn sind mit der polemischen Redeweise auf einer sprachlich-inhaltlichen und mit der<br />
Ironie, dem Sarkasmus sowie der Parodie auf einer sprachlichen Ebene angesiedelt. Produktionsästhetisch<br />
lassen sich diese dominanten Charakteristika am besten mit <strong>Meienberg</strong>s<br />
Empathie-Konzept als rhetorischer Wirkungsstrategie erklären: In der Pauschalität<br />
des Urteils, in der Aggressivität und dem Spott seiner Sprache zeichnet sich ein emotionales<br />
Seismogramm der Gefühle ab, welche der Autor bei der Betrachtung der gesellschaftlichen<br />
„Zustände“ entwickelte und nun via Sprache auf die Rezipienten seiner Texte überspringen<br />
lassen will. Weinen und lachen, sich empören und sich unterhalten, kurz: emotional<br />
und intellektuell ergriffen werden soll der Leser von <strong>Meienberg</strong>s Texten, damit er<br />
den offiziellen Lesarten der jüngsten schweizerischen Vergangenheit nicht mehr so blindlings<br />
Glauben schenke. 710 Von nicht zu unterschätzender Bedeutung sind dabei aber doch<br />
der Esprit, der Witz und das Spielerische in <strong>Meienberg</strong>s Prosa, die ihn etwa von der zwar<br />
ebenso scharfen, aber etwas gekränkten, etwas wehleidigen Schweiz-Kritik eines Max<br />
Frisch unterscheiden und für seinen Erfolg als Schriftsteller vielleicht noch entscheidender<br />
sein werden als seine prägnante Gesellschaftsanalyse.<br />
4) Als letzter Punkt der Binnendifferenzierung von <strong>Meienberg</strong>s historischen Arbeiten sind<br />
schliesslich noch eine Reihe literarischer Techniken zu nennen, die allesamt erst in Wille<br />
und Wahn zu beobachten sind: Die Polyphonie der Stimmen, das metaphorische, allegorische<br />
und ‚filmische‘ Schreiben, die pseudonovellistischen Passagen, das System der Blicke,<br />
die raffinierte Motivstruktur und die Technik des fluktuierenden Zitates als intratextuelle<br />
Plausibilisierungsverfahren der Abduktion, die Verzahnung von Text und Bild.<br />
Durch diese Vielzahl neu entwickelter literarischer Verfahren hat <strong>Meienberg</strong> in seinem<br />
letzten Werk ein neue Dimension ästhetischer Kunstfertigkeit erreicht, die diesem Werk<br />
eine einzigartige textuelle Kohärenz verleiht.<br />
Als Quintessenz dieser Rekapitulation literarischer Aspekte von <strong>Meienberg</strong>s historiografischer<br />
Prosa können die drei diskutierten Werke nun gruppiert werden. Aufgrund der inhaltlichen<br />
Korrespondenzen und der gemeinsamen rhetorischen Interventionsstruktur scheint es<br />
sinnvoll, Ernst S. sowie Wille und Wahn als eine Textgruppe, Bavaud als die andere zu betrachten.<br />
Wollte man die beiden Textgruppen den klassischen Textgattungen zurechnen,<br />
könnte Bavaud tendenziell der Geschichtsschreibung, Ernst S. und Wille und Wahn tenden-<br />
709 Dasselbe gilt, aber noch nicht mit derselben künstlerischen Meisterschaft, für Ernst S.<br />
710 Zu fragen wäre allerdings, ob <strong>Meienberg</strong>s Empathie-Konzept als rhetorische Wirkungsstrategie nicht auch<br />
einen gegenteiligen Effekt hervorrufen kann: Der Zorn und die Wut, die aus seinen Texten spricht, können<br />
den Leser auch um die eigene Zorn-Arbeit bringen.<br />
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