„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg
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nunft und Humanität und betrieb damit eine unkritische Stilisierung der Schweiz, die weit<br />
stärker Wunschbild als Wirklichkeit war. 152 Doch Wirklichkeitsabbildung war gar nicht sein<br />
Ziel. Sein schriftstellerisches Credo lautete: Alles zu sammeln, was „pro“ ist für die<br />
Schweiz. 153 In seinem Essay Heimat oder Domizil? 154 ortete der Zürcher Autor eine umfassende<br />
Bedrohung der Schweiz, die unter anderem auch von „literarischen Attentaten“ auf die<br />
Nation und ihr Kulturbewusstsein herrührt. Insbesondere das Theater erschien ihm als „Infektionsherd“<br />
eines gefährlichen Nihilismus und „Salonbolschewismus“, den es entschlossen abzuwehren<br />
gelte. 155 Für Guggenheim war Literatur ein „Medium der Selbstdarstellung einer<br />
Gemeinschaft“. Dies implizierte auch die Bejahung und Teilhabe an dieser Gemeinschaft, die<br />
Darstellung des Vaterlandes als „Gegenstand der Bewunderung, der Liebe, des Stolzes“. 156<br />
Das Beharren auf diesem Literaturverständnis 157 als kulturelle PR im Dienste der geistigen<br />
Landesverteidigung musste zwangsläufig mit einem Beharren auf dem traditionellen Geschichtsbild<br />
einhergehen. Dagegen verwahrte sich die junge Schriftstellergeneration in den<br />
60er Jahren entschieden: politisch, poetologisch, formal.<br />
Das zentrale Schlagwort des literarischen Paradigmenwechsels in den 60er Jahren war die<br />
Aufklärung. Gefordert wurde eine schonungslose Aufdeckung der Wahrheit, sowohl was die<br />
Vergangenheit, insbesondere die Zeit des Zweiten Weltkrieges, als auch was die Gegenwart<br />
mit ihrem ausgeprägten Idealisierungs- und Projektionsbedarf betraf. 158 Mit dem Willen zur<br />
Aufklärung und dem Willen zur Wahrheit erfolgte im Laufe der 60er Jahre eine Politisierung<br />
der Schweizer Literatur. 159 Die kritischen Werke zielten dabei – etwa im Falle Diggelmanns –<br />
direkt auf das vorherrschende schweizerische Geschichtsbild, das als Geschichtsklitterung<br />
entlarvt werden sollte. Das Verhältnis von Literatur und Gesellschaft erfuhr damit eine grundlegende<br />
Umwertung: Literatur sollte die Leser nicht mehr aus der Wirklichkeit hinaus ins<br />
ewige Reich des Schönen, Reinen, Besseren versetzen, wie es das traditionelle autonomieästhetische<br />
Literaturkonzept des Bürgertums forderte, sondern gerade umgekehrt in die Wirklichkeit<br />
hinein. In der Kunst sollte der Mensch erfahren, in welcher Welt er lebte, aus welcher<br />
er kam und in welche er sich möglicherweise hineinbewegte. 160 Aeschbacher nennt vier<br />
152<br />
Siegrist 1986: 656-657. Guggenheim identifizierte sich als Jude stark mit der schweizerischen Demokratie.<br />
153<br />
Guggenheim, nach Szabó 1989: 28. Vgl. dazu die Äusserung Jürg Willes, <strong>Meienberg</strong> schreibe „kontra“.<br />
154<br />
Guggenheim, Kurt (1961): „Heimat oder Domizil“, in: Martin Dahinden (Hg.): Zeitspuren. Essays und<br />
Reden, Zürich 1988, 108-120.<br />
155<br />
Ebda, 114.<br />
156<br />
Beide Zitate: Ebda, 119. Mit Sonja Rüegg könnte eine solches literarisches Programm als „Nationalästhetik“<br />
bezeichnet werden.<br />
157<br />
Dieser Literaturbegriff ist in weiten Teilen kongruent mit demjenigen Emil Staigers. Auch er setzt den<br />
Willen zur Gemeinschaft und Sittlichkeit in seiner berühmten, den „Zürcher Literaturstreit“ auslösenden Rede<br />
als unhintergehbare ästhetische Norm. (vgl. Staiger, Emil 1967: „Literatur und Öffentlichkeit“, in: Sprache<br />
im technischen Zeitalter 21, 90-97.)<br />
158<br />
Aeschbacher 1998: 229-230.<br />
159<br />
Ebda, 132. Manifesten Niederschlag findet die Politisierung der Literatur etwa in den 1974 verfassten Statuten<br />
der „Gruppe Olten“: Ihr Ziel war eine „demokratische sozialistische Gesellschaft“, womit die literarische<br />
Arbeit eine explizite politische Orientierung erhielt. (Pezold 1991: 174.)<br />
160<br />
Schmid, Karl (1967): „Engagement und Opposition“, in: Dahinden 1988, 315-331, hier S. 322. Schmids<br />
Rede von 1967 kann auch als Antwort auf Staigers ‚Verdammung‘ der engagierten Literatur verstanden werden,<br />
die er als Entartung, als verbrecherisch und krank auffasste.<br />
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