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„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg

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Sprache; sie wird lauthals plakatiert, aber nicht ihm Stil inkarniert.“ 514 Wenn <strong>Meienberg</strong> eine<br />

„Inkarnation“ der politischen Haltung des Autors in der Sprache und im Stil selbst verlangt,<br />

so steht dahinter die Vorstellung eines „Klassenkampfes in der Sprache“, d.h. einer aktiven<br />

Sprach-Politik in Form einer an James Joyce geschulten subversiven Sprache (vgl. Kap.<br />

3.3.2). Um eine Wirkung auf das Bewusstsein der Rezipienten ausüben zu können, so seine<br />

Überzeugung, müsse die Sprache „unter die Haut gehen“ und „prickeln“. 515 Denn: „[...] man<br />

kann nicht mit einer abgedroschenen, ausgelaugten, fantasielosen Sprache eine Gesellschaft<br />

verändern.“ 516<br />

Dieses ausgefeilte literarische Sprach- und Stilverständnis lässt sich von zwei anderen – instrumentellen<br />

– Arten der Sprachverwendung abgrenzen: Einerseits von der Praxis anderer,<br />

ebenfalls gesellschaftspolitisch orientierter Autoren wie Günter Wallraff, der seine sprachlichen<br />

Leistungen in erster Linie am pragmatischen Ziel der allgemeinen Verständlichkeit<br />

misst. Ausschlaggebend ist für Wallraff lediglich, ob er mit seinen Texten die untersten Gesellschaftsschichten<br />

erreicht, über die er schreibt und deren Bewusstsein er zu verändern<br />

sucht. 517 Andererseits vom wissenschaftlichen Diskurs, der normaleweise auf der ‚Trennung‘<br />

von Objekt- und Metasprache beruht und mit der Vorstellung eines „Klassenkampfes in der<br />

Sprache“ sowie dem Empathie-Konzept tendenziell unvereinbar ist.<br />

Über den guten Stil – hier im Speziellen der Geschichtsschreibung – schrieb <strong>Meienberg</strong> weiter:<br />

„Der lebendige Stil resultiert vielmehr aus einer lustbetonten Rutengängerei, dem Aufspüren<br />

von schriftlichen, und, wie oft muss man’s noch sagen, mündlichen Quellen; er entsteht<br />

aus Anschauung und Widerspruch, vagabundierender Forscherlibido und Formulierungskraft;<br />

eins wächst aus dem anderen hervor, und wenn man das Forschen vom Formulieren trennt,<br />

wird der Stil frigid.“ 518 Lust, Libido, Frigidität – die Bezeichnungen, die <strong>Meienberg</strong> zur Beschreibung<br />

des Stils wählt, verraten seine intime, erotische Beziehung, die er zur Sprache unterhielt.<br />

Er verurteile einen rationalen, distanzierten, kontrollierten Umgang mit Sprache, weil<br />

für ihn der Umgang mit Sprache eine Sache des Gefühls und der Leidenschaft war. Ein physisches<br />

Ereignis. In einer Pseudo-Widmung verlangte er unzweideutig: „ [...] und jetzt, Körperlichkeit<br />

in die Sprache, sus tätschts.“ 519 Hinter seiner Forderung nach einer Synthese von<br />

„Forschung und Formung“ – für die Historiografie wohl ebenso unüblich wie sein Liebesverhältnis<br />

mit der Sprache – steht einerseits sein Konzept des Ikonismus: Wer eine enge Anbindung<br />

des Stils an die Quellen verlangt, muss die Trennung in Objekt- und Metasprache ablehnen.<br />

Andererseits ist die Rede von einer Verbindung von „Forschung und Formung“ auch als<br />

Plädoyer für die Methode der Oral History zu verstehen, da sie es am besten erlaubt, jene Präzision<br />

und Authentizität der Redewiedergabe zu gewährleisten, auf welche <strong>Meienberg</strong> so<br />

grossen Wert legte.<br />

514<br />

„Die Lust“, in: VW, 135.<br />

515<br />

„Die Lust“, in: VW, 135.<br />

516<br />

Ebda.<br />

517<br />

Ricker-Abderhalden 1987: 163. In einem Brief an die Autorin sagte <strong>Meienberg</strong>, dass ihm Wallraffs Sprache<br />

„zu statisch und zu einfallslos, zu grau und zu geglättet“ sei. (Ebda.) Aus der Differenz zu Wallraffs<br />

Sprache und Stil lassen sich auch wieder Rückschlüsse ziehen auf das Zielpublikum <strong>Meienberg</strong>s; er hatte<br />

wohl ein breites Publikum im Visier, das ich aber eher in den oberen als in der unteren gesellschaftlichen<br />

Sphären ansiedeln würde. Seine Texte setzen eine gewisse Sprachkompetenz voraus.<br />

518<br />

„Kurzer Briefwechsel“, in: VT, 256.<br />

519 „Quellen“, in: VW, 142.<br />

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