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„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg

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Minoritäten. 431 Vielfach ging Oral History deshalb mit dem (wissenschafts-)politisch motivierten<br />

Projekt einer „Geschichte von unten“ („History from Below“, auch „Grassroots History“)<br />

einher und galt als deren Königsweg. Das Konzept einer „History from Below“ wurde<br />

vom englischen marxistischen Historiker Edward P. Thompson Mitte der 60er Jahre im Rahmen<br />

seiner „British Labour History“ entworfen und zwar als Alternative zur herkömmlichen<br />

„Top Person‘s History“. 432 Die Frage, was genau unter dem Stichwort „unten“ behandelt werden<br />

sollte, wurde von der englischen Arbeitergeschichte sehr restriktiv beantwortet, indem sie<br />

das relevante „Unten“ auf den politisch aktiven Teil der Arbeiterschaft beschränkte. 433 Eine<br />

konzise Konzeptualisierung einer „Geschichte von unten“ erweist sich als schwierig. Unter<br />

dem Begriff werden nämlich sowohl inhaltliche als auch methodische Kategorien diskutiert.<br />

434 Am besten lässt sich die „Geschichte von unten“ wohl als unspezifischer Tendenzbegriff<br />

kennzeichnen, mit dem ein Korrektiv zur traditionellen „Geschichte der Eliten“ – die als<br />

solche auch nicht konzeptualisiert ist – geschaffen werden soll. Es gibt Historiker, die soweit<br />

gehen, Oral History als Methode mit dem Konzept einer „Geschichte von unten“ zu identifizieren.<br />

Die mündliche Befragung von bedeutenden Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens<br />

zur Zeitgeschichte wird dann nicht mehr Oral History, sondern Oralistik genannt. 435<br />

Oral History ist die einzige Methode, die <strong>Meienberg</strong> im Zusammenhang mit seinen historischen<br />

Arbeiten explizit erwähnte. Das heisst nicht, dass er nicht auch mit anderen Methoden<br />

und Ansätzen gearbeitet hätte, und das heisst vor allem nicht, dass seine Geschichtsschreibung<br />

ausschliesslich auf dieser Methode beruhen würde. <strong>Meienberg</strong> machte sich wiederholt<br />

stark für die Oral History als unverzichtbare Methode der sozialgeschichtlichen Forschung<br />

und er war zu Beginn der 70er Jahre einer der ersten in der Schweiz, der das wissenschaftliche<br />

und politische Innovationspotenzial der mündlichen Befragung von Zeitzeugen erkannte. Dabei<br />

stiess er in Historikerkreisen lange Zeit auf eine breite Front von Skepsis oder Ablehnung.<br />

Obschon weitgehend akzeptiert, kann noch heute nicht von ihrer allgemeinen Etablierung im<br />

deutschsprachigen Raum gesprochen werden. 436 <strong>Meienberg</strong>s Offenheit für die Oral History<br />

als historiografische Arbeitsmethode kann ohne grosse theoretische Umwege aus seiner journalistischen<br />

Tätigkeit hergeleitet werden. Als Autor von rechercheintensiven Reportagen verband<br />

er, an Kisch geschult, ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber allem ‚Vorgekäuten‘ –<br />

und das sind sämtliche schriftlichen Quellen per Definition – mit der unbedingten Priorisierung<br />

des eigenen Erlebnisses, des empirisch-induktiven Vorgehens. „Ins Leben eintauchen“<br />

lautete sein Motto als Frankreich-Korrespondent. Nur so sah er die Möglichkeit, „<strong>zum</strong> Herz<br />

431 Perks/Thomson 1998: ix.<br />

432 Sharp, Jim: „History from Below“, in: Burke 1992, 24-41, hier S. 24-25.<br />

433 Ebda, 28.<br />

434 Sharp vermag keine inhaltliche Definition der Objekte zu liefern und erwähnt unter dem Begriff der History<br />

from Below eine Menge heterogener historiografischer Konzepte (Mikrogeschichte ebenso wie quantitative<br />

Sozialgeschichte) ohne dies zu reflektieren.<br />

435 Spuhler, Gregor (Hg.) 1994: „Vielstimmiges Gedächtnis. Beiträge zur Oral History in der Schweiz“, Zü-<br />

rich, 10.<br />

436 Im denkbar breit angelegten Einführungswerk „Geschichte. Ein Grundkurs“ (Goertz 1998), in welchem<br />

selbst Bilder als historische Quellen besprochen werden, fehlt beispielsweise ein Kapitel über die Oral History.<br />

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