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„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg

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historiografischer Ansatz bereits in dieser Arbeit präsent: Es sind keine anonymen Mächte,<br />

sondern individuelle Akteure, die seinem Verständnis nach in der Geschichte agieren und interagieren;<br />

ihrem Charakter und ihren Emotionen wird grosszügig Platz konzediert. <strong>Meienberg</strong>s<br />

Politiker sind Menschen aus Fleisch und Blut, die, mit persönlichen und sich wandelnden<br />

Sympathien und Antipathien beladen, durchaus imstande sind, etwas zu bewegen, zu verhindern<br />

oder zu fördern. Die personenzentrierte Perspektive geht einher mit einem ausgeprägten<br />

narrativen Erzählmodus, der sich bereits in der Lizenziatsarbeit eindrücklich manifestiert.<br />

370 Es ist seine Stärke, das historische Material in eine packende, spannende Schilderung<br />

individuellen Handelns und Fühlens zu transformieren.<br />

Nach dem Politisierungsschub vom Mai 1968 hat <strong>Meienberg</strong> das Paradigma der Personenzentriertheit<br />

bleibend um die Frage nach den gesellschaftlichen Strukturen und Machtverhältnissen<br />

ergänzt. 1971 wandte er sich in der Kritik am Bonjour-Bericht gegen jeglichen Historismus,<br />

und vielleicht kann darin auch ein wenig Selbstkritik an der Konzeption seiner Lizenziatsarbeit<br />

herausgehört werden: „Geschichte wird bei Bonjour von grossen Individuen gemacht<br />

– je nach ‚Charakterfestigkeit‘ gut oder schlecht gemacht. Deshalb auch keine Statistiken,<br />

fast keine Vergleichszahlen; dafür viele psychologisierende Porträts grosser Männer, deren<br />

Charakter der Geschichte entspringt. Das ergibt pointillistische Historienmalerei ohne gesellschaftlichen<br />

Hintergrund, und eine Auflösung des geschichtlichen Ablaufs in einzelne<br />

Episoden.“ 371 Die Objekte von <strong>Meienberg</strong>s Geschichtsschreibung pendeln in seinen Texten<br />

fortan zwischen Akteuren und Strukturen, wobei er den konkreten Akteuren in der Darstellung<br />

den Vorzug gibt, die Strukturen aber immer, gut sichtbar im Hintergrund, im Auge behält. In<br />

einer Projektskizze zu seinem ersten Buch, den Reportagen aus der Schweiz, schreibt <strong>Meienberg</strong>,<br />

die „Persönlichkeiten“ seien ihm bloss ein Vorwand, um Strukturen sichtbar zu machen.<br />

372 Gründe für die Priorisierung der einzelnen Personen als Objekte seiner historischen<br />

Arbeiten gibt es mehrere: Die Bevorzugung des empirisch-induktiven Vorgehens, die Affinität<br />

von narrativer Geschichtsschreibung und personenzentrierter Perspektive, das Gebot der<br />

Plastizität und Anschaulichkeit, schliesslich auch sein Empathie-Konzept (vgl. Kap. 3.3.3.2),<br />

das ausschliesslich bei Personen zur Anwendung gelangen kann. In einem offenen Brief an<br />

den Historiker Albert Tanner schrieb <strong>Meienberg</strong>: „Ich bin zwar der letzte, der die alte ‚helden-<br />

und personenbetonte Geschichtswissenschaft‘ wieder aufleben lassen möchte; aber so ganz<br />

abstrahieren vom Leiden, das die Strukturen den Personen zufügen, kann ich nicht. [...]<br />

schliesslich kann ich die Strukturen nur dann verstehen und einfahren lassen, wenn Personen<br />

sie mir anschaulich machen (die ihrerseits ökonomisch – etc. – konditioniert sind; was man<br />

aber auch wieder anschaulich verdeutlichen müsste).“ 373 Und ebenso bemerkte er in einem<br />

Interview: „Die Geschichte muss von einer Struktur getragen werden, ohne dass ich immer<br />

von der Struktur rede. Das werfe ich der akademischen Geschichtsschreibung vor: Statt Struk-<br />

370 Wobei in der Lizenziatsarbeit die Ereignisse noch in der herkömmlichen chronologischen Reihenfolge geschildert<br />

werden; komplexere Erzählstrukturen, wie sie in seinen späteren historischen Arbeiten anzutreffen<br />

sind, verwendet er nicht; was auch nicht weiter überrascht, handelt sich doch dabei um eine akademische Abschlussarbeit.<br />

371 „Bonsoir“, in: VT, 228.<br />

372 Fehr 1999: 196.<br />

373 „Kurzer Briefwechsel“, in: VT, 256.<br />

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