„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg
„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg
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<strong>Meienberg</strong> legitim ist, ist die Abduktion. 604 Nur so ist sein Vorwurf: „Du bist einfach unpräzis,<br />
Otti, [...]“ 605 in seiner ganzen Tragweite verständlich.<br />
Diese fundamentale Differenz in der Art des Wirklichkeitsbezuges widerspiegelt sich auch in<br />
der Frage der Wirklichkeitsaneignung. Für Walter ist das Subjekt als kohärente Grösse nicht<br />
mehr vorstellbar und damit auch nicht mehr darstellbar. Er hielt die Form des Entwicklungsromans<br />
deshalb für unmöglich. Ein ‚Ich‘ konnte für ihn nicht mehr ungebrochen dargestellt<br />
werden. 606 Ganz anders <strong>Meienberg</strong>: Er lehnte zwar das positivistische Verständnis einer direkten<br />
Wirklichkeits-Abbildung ab, war ansonsten aber – wie jeder Historiker – von der<br />
grundsätzlichen Erkennbarkeit der Wirklichkeit überzeugt. Auf das jeweilige Schreiben<br />
schlagen sich diese Ansätze sehr unterschiedlich nieder. Walters Romane Die ersten Unruhen,<br />
Die Verwilderung 607 und Das Staunen des Schlafwandlers am Ende der Nacht 608 können meiner<br />
Ansicht nach als Wirklichkeits-Modelle begriffen werden, in welchen der Autor laborartig<br />
mit Figuren, Geschichten und Erzählweisen experimentiert. Sein Erzählen ist distanzierend,<br />
anti-illusionistisch, tastend. Walter führt Figuren ein mit Sätzen wie „Eine mögliche biographische<br />
Notiz könnte so aussehen“, „Versuchweise?“, „Behauptung:“ oder „Nehmen wir<br />
einmal an“. Die Differenz zu <strong>Meienberg</strong> lässt sich an diesem „Nehmen wir einmal an“ sehr<br />
gut verdeutlichen: Walters Mutmassung erfolgt nach der Logik eines Laborexperimentes:<br />
Wenn Figur X so reagiert, dann muss Figur Y dieses tun. 609 Es geht um das Durchspielen von<br />
Möglichkeiten in einer Modell-Situation, welches hauptsächlich einer internen Logik verpflichtet<br />
ist. <strong>Meienberg</strong>s Mutmassung dagegen ist die Abduktion, welche entscheidend von<br />
der Logik der Umstände, der Quellen, des Faktischen gesteuert wird. Eine Konsequenz aus<br />
dem Modell-Charakter von Walters hier besprochenen Romanen ist die relativ grosse Homogenität<br />
seiner Sprache, die im Wesentlichen nur zwei Ebenen kennt, nämlich eine Handlungsebene<br />
und eine theoretische Ebene, mit welcher er z.B. wissenschaftliche Werke referiert.<br />
Walters Innovationen betreffen die Struktur seiner Erzählungen. Eine Problematisierung der<br />
Sprache, wie sie sich bei <strong>Meienberg</strong> in seinem Konzept des Ikonismus manifestiert, ist bei<br />
ihm im „Werkstattgespräch“ nicht anzutreffen; es ist für ihn deshalb auch keine grössere<br />
Schwierigkeit, die Rede einer jungen Frau zu ‚erfinden‘. 610 Ganz anders bei <strong>Meienberg</strong>: Wollte<br />
er in einer abduktiven Passage eine junge Frau reden lassen, so ginge das nicht ohne sorgfältige<br />
Recherche: „Ich möchte das Problem zuerst wirklich genau kennen, mein Ohr schärfen<br />
und präzis zuhören. Ich müsste jemanden finden, der diese Sprache wirklich spricht, [...].“ 611<br />
Die Differenz bei der Frage der ‚Erfindung‘ lässt sich damit auch am Beispiel der Sprache mit<br />
den Begriffen ‚Modelle‘ versus ‚Fälle‘ verdeutlichen.<br />
Walters Begriff der Fiktion ist sozusagen der klassische, und nimmt sogar expliziten Bezug<br />
auf die Etymologie des Wortes. Das lateinische fingo meinte zunächst nämlich eine Mauer<br />
604<br />
Als präzises empirisches Vorgehen lässt <strong>Meienberg</strong> auch die Erforschung der psychischen, inneren Wirklichkeit<br />
gelten, wie es Frisch in „Montauk“ vorzeigt. Es handelt sich dann sozusagen um biografische Wirklichkeit.<br />
(Lerch/Sutter 1984: 62).<br />
605<br />
Lerch/Sutter 1984: 62.<br />
606<br />
Ebda, 66.<br />
607<br />
Walter, Otto F.: „Die Verwilderung“, Reinbek bei Hamburg 1993 (erstmals 1977).<br />
608<br />
Walter, Otto F.: „Das Staunen des Schlafwandlers am Ende der Nacht“, Reinbek bei Hamburg 1983.<br />
609<br />
Am deutlichsten spielt Walter mit Figuren und Erzählformen in der Verwilderung.<br />
610 Lerch/Sutter 1984: 69.<br />
611 Ebda.<br />
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