„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg
„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg
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kumente in aller Ruhe anschauen und das bisherige Urteil [über Wille I und Wille II, P.M.]<br />
korrigieren.“ 292 Innerhalb der vom Geschichtstheoretiker Jörn Rüsen aufgestellten, erzähltheoretisch-funktionalen<br />
Typologie der Geschichtsschreibung 293 kann damit <strong>Meienberg</strong>s Funktionszuschreibung<br />
für die Geschichtsschreibung als kritisches Erzählen charakterisiert werden.<br />
Kritisches Erzählen lebt von dem, wogegen es sich richtet und besitzt eine „dekomponierende<br />
Kraft“. Es erinnert Zeiterfahrungen, die von den Traditionen und normativen Handlungsregeln<br />
signifikant abweichen und versucht damit, eine Änderung des aktuellen historischen Orientierungsrahmens<br />
zu erzwingen: Geschichte wird als „Gegengeschichte“ konzipiert, die das<br />
Normengefüge der Gegenwart erschüttern soll. Kritisches Erzählen kann immer auch als Indikator<br />
einer Krise der althergebrachten, dominanten Deutungsmuster verstanden werden. Es<br />
richtet Orientierungsprobleme der Gegenwart als historische Fragen an die Vergangenheit<br />
und zeigt so, dass man sie nicht mehr durch eine von den bisherigen Interpretationsmustern<br />
geleitete Erinnerung wirksam beantworten kann. 294 Zu den wichtigen Vorbildfiguren für diesen<br />
Gestus des hartnäckigen Fragens zählte für <strong>Meienberg</strong> Max Frisch: „Frisch beschreibt die<br />
wirkliche Schweiz mit Raffinesse, das heisst mit konkreter Präzision, der seine eigentümliche<br />
Sprachlust entspringt. In seinen Büchern stehen Namen, Zahlen, Ereignisse. [...]. Die genaue<br />
Beschreibung dieser real existierenden Schweiz oder ihrer Teile, <strong>zum</strong> Beispiel der Armee im<br />
‚Dienstbüchlein‘ oder der ‚Bourgeoisie‘, [...]: All diese subversiven Texte können mit grosser<br />
Lust verzehrt werden, woraus auch für einen schweizerischen Menschen, sofern er lesen kann<br />
und nicht nur romanhaft konsumieren, eine langsame Verschiebung im Bewusstsein entsteht,<br />
welche tiefer wirkt als hurrapolitische Fiktionen. Nur Lust ist schöpferisch. Sie entsteht aus<br />
literarischer Präzisionsarbeit.“ 295 Bemerkenswert sind hier wiederum die Kontinuitäten auf<br />
der metaphorischen Ebene. Das Skalpell ist das Instrument des Chirurgen für die feinen, haarscharfen<br />
Schnitte, und ebensolche „Präzisionsarbeit“ fordert <strong>Meienberg</strong> für die Tätigkeit des<br />
Schriftstellers.<br />
Der Wille zur Wirkung, die Forderung nach Folgen, 296 die Abscheu vor dem Stigma der politischen<br />
Harmlosigkeit, 297 all dies sind charakteristische Merkmale jenes politischen Literaturbegriffs<br />
der Dokumentarliteratur, der in Enzensbergers „Gemeinplätzen“ von 1968 seinen exemplarischen<br />
Ausdruck fand (Kap. 2.2.1.). Sie kennzeichnen auch <strong>Meienberg</strong>s intellektuelles<br />
Selbstverständnis, das enge Verbindungen mit dem normativen, operativen Literaturbegriff<br />
von ‚1968‘ aufweist. Manche Kommentatoren haben sein Festklammern am politischen Wirkungsanspruch<br />
nicht zu Unrecht als überlange Entwicklungslosigkeit bezeichnet. Eine entscheidende<br />
Ergänzung muss hier aber gemacht werden: Anders als bei vielen Dokumentaristen<br />
und ‚politischen‘ Autoren der 60er Jahre, von deren Erbe er zehrte, gingen seine operativen<br />
Ansprüche immer mit ästhetischen einher. <strong>Meienberg</strong> stellte – dies ist ein fundamentaler<br />
Unterschied beispielsweise zu Wallraff – den Inhalt nie über die Form. Als Beleg hierfür kann<br />
seine mehrfach geäusserte Weigerung gelten, über dasselbe Thema mehr als einmal zu schrei-<br />
292<br />
Volken, Marco: „Die Welt als Wille und Wahn ... <strong>Niklaus</strong> <strong>Meienberg</strong> zu seiner ‚heissen‘ Neu-<br />
Erscheinung“, Neue Zürcher Nachrichten, 28.11.1987.<br />
293<br />
Rüsen, Jörn 1990: „Die vier Typen des historischen Erzählens“, in: ders.: Zeit und Sinn. Strategien des<br />
historischen Denkens, Frankfurt/M., 155-227.<br />
294<br />
Rüsen 1990: 184-185.<br />
295<br />
„Die Lust“, in: VW, 134. Meine Hervorhebung.<br />
296<br />
„Quellen“, in: VW, 146.<br />
297<br />
„Inglins Spiegelungen“, in: VT, 129.<br />
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