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„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg

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Dieses Programm enthält implizit zugleich eine Wissenschaftskritik und eine Herrschaftskritik.<br />

Der Alltagsgeschichte, Mikrogeschichte und Historischen Anthropologie gemeinsam ist<br />

der Fokus auf Fragen der Wirklichkeitserfahrung, -aneignung und -produktion – damit ein<br />

grundlegend hermeneutischer Ansatz – sowie das Interesse für neue, auch experimentelle Erzählformen,<br />

die aus der Kritik an der auktorialen Erzählhaltung entstanden sind. Alle drei<br />

Richtungen können als Variation und Weiterentwicklung einer historischen Sozialwissenschaft<br />

verstanden werden, die mit ihrer systematischen Erforschung von Strukturen und Prozessen<br />

den Menschen in der Geschichte aus den Augen verloren hatte und nicht mehr in der<br />

Lage war, persönliche und gruppenspezifische Wahrnehmungen, Verhaltensformen und Sinndeutungen<br />

zu untersuchen. 423 Eine Begleiterscheinung dieser makroskopischen Strukturgeschichte<br />

war, dass ihre Sprache immer wissenschaftlicher und abstrakter wurde. Die Konsequenz<br />

daraus formulierte bündig der russische Historiker Aron Gurewitsch: „Als die Historiker<br />

die Menschen in der Geschichte verloren, verloren sie auch ihre Leser.“ 424 Diese Leser zurückzuerobern<br />

– letzte Gemeinsamkeit – war das Ziel der meisten Mikrohistoriker, Alltagshistoriker<br />

und Historischen Anthropologen. <strong>Meienberg</strong> hatte ebensolches im Sinn, was dem<br />

Historiker Albert Tanner nicht verborgen blieb: „Mit Ihrer Naturgeschichte eines Clans haben<br />

Sie nicht nur die traditionelle Geschichtsschreibung, sondern offensichtlich auch die neuere,<br />

sozial- und wirtschaftsgeschichtlich orientierte Geschichtsschreibung, der ich mich selbst verpflichtet<br />

fühle, auf dem schwachen Standbein erwischt. Als Gegentrend zur ehemals ‚‘helden‘-<br />

und personenorientierten Geschichtswissenschaft hat diese neuere Richtung, vor allem<br />

nach 1970, als auch in der Schweiz Ansätze und Methoden der englischen Sozialgeschichte<br />

(Thompson, Hobsbawm u.a.), der Annales-Schule bzw. der deutschen sozialwissenschaftlich<br />

ausgerichteten Gesellschaftswissenschaft (Wehler, Kocka etc.) sowie der historischen Anthropologie<br />

aufgenommen wurden, die konkret handelnden Personen, Familien oder auch Clans<br />

etwas aus den Augen verloren, d.h. sie hat diese mehr als mehr oder weniger austauschbare<br />

Rollen- und Funktionsträger analysiert und damit ‚entpersönlicht‘ dargestellt. Dies hatte zwar<br />

durchaus seinen Sinn, hatte aber auf der anderen Seite die Folge, dass für ein breiteres Publikum<br />

der Zugang erschwert oder gar verunmöglicht wurde, weil, wie Sie mit ihrem ‚Wille‘-<br />

Buch zeigen, der Einstieg über Personen und nicht einfach Rollenträger entscheidend ist.“ 425<br />

423<br />

Hardtwig, Wolfgang: „Alltagsgeschichte heute. Eine kritische Bilanz“, in: Schulze 1994, 19-32, hier S.<br />

20.<br />

424<br />

Gurewitsch, Aron 1990: „Geschichtswissenschaft und historische Anthropologie“, in: Gesellschafts-<br />

Wissenschaften Nr.4 (64), [Akademie der Wissenschaften der UdSSR], 70-90, hier S. 83.<br />

425<br />

„Kurzer Briefwechsel“, in: VT, 252.<br />

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