29.08.2013 Aufrufe

„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg

„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg

„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

tive auf die westdeutsche Gegenwart. 188 Alle drei Stücke waren gekennzeichnet durch ihre<br />

appellative Struktur, die als repräsentativ für die gesamte Dokumentarliteratur angesehen<br />

werden kann.<br />

Im Gegensatz <strong>zum</strong> Dokumentartheater, das trotz grosser Resonanz in der Öffentlichkeit im<br />

Wesentlichen Bewusstseinstheater für Intellektuelle blieb, zielte die dokumentarische Prosa<br />

mit ihren Interviews, Protokollen, Reportagen und der Darstellung von gesellschaftlichen Bereichen,<br />

die aus der bürgerlichen Öffentlichkeit ausgegrenzt oder allgemein tabuisiert waren,<br />

auf ein breiteres Publikum. 189 Ein wichtiger solcher Bereich war die Arbeitswelt. 1961 wurde<br />

die „Dortmunder Gruppe 61, Arbeitskreis für die künstlerische Auseinandersetzung mit der<br />

industriellen Arbeitswelt“ gegründet, die sich – als bewusste ‚Gegengründung‘ zur Gruppe 47<br />

– die Erschliessung dieses für die Nachkriegszeit neuen literarischen Stoffes auf die Fahnen<br />

geschrieben hatte. Angestrebt wurde in einem neorealistischen Programm die „geistige Auseinandersetzung<br />

mit dem technischen Zeitalter“, was als klare Absage an ihre Vorgänger, die<br />

klassenkämpferische Arbeiterliteratur 190 der Weimarer Zeit, gewertet werden konnte. 191 Aufgrund<br />

einer unzureichenden programmatischen Selbstdefinition der Gruppe kam es im Herbst<br />

1969 zu einer Abspaltung, welche die Auflösung der Gruppe 61 einige Jahre später in die<br />

Wege leitete. Der neu gegründete „Werkkreis Literatur der Arbeitswelt“, auch „Werkkreis<br />

70“ genannt, verschrieb sich dann unmissverständlich der politischen Wirkung: Es war sein<br />

erklärtes Ziel, eine demokratische Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse voranzutreiben.<br />

Als Autoren und Adressaten sah der Werkkreis, der im übrigen auch zwei ‚Filialen‘<br />

in der Schweiz 192 bekommen sollte, die „Werktätigen“ vor: Arbeiter sollten unter Anleitung<br />

von Schriftstellern <strong>zum</strong> Schreiben und über das Lesen <strong>zum</strong> „Bewusstwerden über ihre Klassenlage“<br />

gebracht werden. 193 Diese Literaturkonzeption beanspruchte ein absolutes Primat des<br />

Inhalts und der „richtigen“ politischen Tendenz – als Konsequenz daraus stand sie dauernd in<br />

Gefahr, als simples Vehikel für Politik instrumentalisiert und damit trivial zu werden. 194 Die<br />

Gruppe 61 und der Werkkreis 70 waren die beiden zentralen Organisationsformen, aus welchen,<br />

mit wenigen Ausnahmen, die wichtigsten Vertreter dokumentarischer Literatur hervorgingen.<br />

195 Die Themata Arbeit, Arbeitsplatz und Arbeitswelt sind auch für <strong>Meienberg</strong>s Werk<br />

von Bedeutung: Alle seine Unterschichts-Figuren werden im Kontext ihrer Arbeitssituation<br />

188<br />

Bergham 1979: 209. Hochhuth, Rolf: „Der Stellvertreter. Ein christliches Trauerspiel“, Reinbek bei Hamburg<br />

1997; Kipphardt, Heinar: „In der Sache J. Robert Oppenheimer. Ein Stück und seine Geschichte“, Reinbek<br />

bei Hamburg 1997; Weiss, Peter: „Die Ermittlung. Oratorium in 11 Gesängen“, Frankfurt/M. 1991.<br />

189<br />

Winter 1986a: 396.<br />

190<br />

Zur Differenzierung von Dokumentarliteratur – Arbeiterliteratur siehe weiter unten.<br />

191<br />

Schnell 1993: 360-361.<br />

192<br />

1973 wurde die „Werkstatt schreibender Arbeiter Zürich“ gegründet, kurz darauf die „Werkstatt Arbeiterliteratur<br />

Basel“, ohne nennenswerte literarische Resultate zu erzielen. Die ersten bedeutenden Auseinandersetzungen<br />

mit dem Thema Arbeitswelt stammten von Schriftstellern. (Pezold 1991: 209-210.) <strong>Meienberg</strong><br />

schrieb 1986 das Vorwort zu einen Band mit Industriereportagen, die ausschliesslich von Schriftstellern<br />

stammen. (<strong>Meienberg</strong>, <strong>Niklaus</strong>: „Nachrichten aus dem Sperrbezirk“, in: Fabrikbesichtigungen. Reportagen<br />

von Monique Laederach, Al Imfeld etc., Zürich 1986, 7-11.) Es gibt keine Hinweise darauf, dass er mit den<br />

Arbeiter-Schreibwerkstätten in Verbindung kam.<br />

193<br />

Schnell 1993: 363-364.<br />

194<br />

Beispiel für die radikale Formulierung und die doktrinäre Ausrichtung dieses Programms ist Hübner, der<br />

praktisch sämtlichen Texten der Dokumentarliteratur die „richtige Perspektive“ abspricht – darunter auch<br />

<strong>Meienberg</strong>s Reportagen aus der Schweiz – und mit seiner Forderung, nur noch „hauptamtlich betroffene Proletarier“<br />

selbst über die „objektiv wichtigsten Inhalte“ schreiben zu lassen, das Existenzrecht beinahe der gesamten<br />

Literatur auslöscht. (Hübner 1976: 39-41.)<br />

195<br />

Kneip 1993: 253.<br />

39

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!