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Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins 1983

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Joseph Rouget de Lisle verglichen werden, der 1782 <strong>die</strong> Marseillaise schuf, oder mit dem<br />

Drechsler Pierre Degeyter, der 1888 <strong>die</strong> Internationale vertonte, deren Text allerdings von dem<br />

Arbeiterdichter Eugene Pottier stammt.<br />

Gustav Büchsenschütz war noch nicht einmal Mitglied der NS-Partei. Er war 1945 das, was er<br />

schon vorher war: Stadtinspektor beim Bezirksamt Steglitz von Berlin. Erst nach 1945 stieg er<br />

auf der Lauf bahnleiter einige Sprossen höher und wurde Amtmann. Zunächst einmal wurde er<br />

jedoch 1943 eingezogen. Als Soldat konnte er nach seiner eigenen Melo<strong>die</strong> marschieren. In der<br />

Amerika-Gedenkbibliothek wird ein Teil der Korrespondenz <strong>des</strong> damaligen Vorsitzenden <strong>des</strong><br />

<strong>Vereins</strong> <strong>für</strong> <strong>die</strong> <strong>Geschichte</strong> <strong>Berlins</strong>, Dr. Hermann Kügler, aufbewahrt. Darunter befinden sich<br />

auch einige Feldpostbriefe von Gustav Büchsenschütz, der mit Kügler eng befreundet war.<br />

Nach <strong>die</strong>sen Briefen war Büchsenschütz alles andere als ein begeisterter Krieger. In den Briefen<br />

geht es überwiegend um das <strong>Vereins</strong>leben, um Vorträge und heimatkundliche Wanderungen,<br />

an denen Büchsenschütz nicht teilnehmen konnte, und um Veröffentlichungen <strong>des</strong> <strong>Vereins</strong>vorsitzenden,<br />

<strong>die</strong> <strong>die</strong>ser ihm zugeschickt hatte. Alles vollkommen unpolitisch. Nur einen Satz<br />

möchte ich aus seinem Brief vom 25. Juni 1944 an den „lieben Freund Hermann" zitieren: „Ich<br />

habe Sehnsucht nach meiner Heimat Berlin - und wenn es auch nur Trümmer sind."<br />

„Märkische Heide" war nach 1933 ohne Zweifel eines der am meisten gesungenen Lieder, nicht<br />

nur in Berlin und Brandenburg, sondern darüber hinaus in anderen Teilen Deutschlands. Auch<br />

weit über Deutschland hinaus war es verbreitet. Der Text ist in mehrere Sprachen übersetzt<br />

worden. Tantiemen kamen aus aller Welt, nicht nur aus fast allen europäischen Ländern,<br />

sondern auch aus den Vereinigten Staaten, aus Brasilien und Japan. Der Berliner Schulleiter<br />

und Volksliedforscher Johannes Koepp schrieb damals: „Wenn ich mit Berliner Jungen auf den<br />

Schüleraustauschreisen deutsche Lieder sang, dann als erstes immer ,unser' Lied, <strong>die</strong> Märkische<br />

Heide. Sie erklang unter Pinien bei den Ruinen von Delphi und in Boulogne an der<br />

französischen Kanalküste, im englischen College und am Lagerfeuer inmitten von amerikanischen<br />

Jungen im Camp Becket südlich der großen Seen von Nordamerika. Ein Indianer, ein<br />

junger Student aus New York, spitzte besonders <strong>die</strong> Ohren, hieß er doch in seinem Stamm der<br />

,Red Eagle' [Roter Adler]. Als französische Schüler vom Aufenthalt in der Mark 1933 heimkehrten,<br />

sangen sie auf dem Pariser Nordbahnhof: ,Eleve-toi, aigle rouge!' Seltsame Wanderungen<br />

und Wandlungen eines Lie<strong>des</strong>!" 21<br />

Nach dem Kriege wurde das Lied nach wie vor gesungen. Anfang der fünfziger Jahre erschien<br />

eine Telefunken-Schallplatte. Die Bun<strong>des</strong>wehr übernahm das Lied in ihre Liederbücher 22 . Nur<br />

im Osten war und blieb es verpönt. Im Westen teilte es schließlich das Schicksal der deutschen<br />

Nationalhymne und aller deutschen Volkslieder. Es ist wie <strong>die</strong>se heute beinahe in Vergessenheit<br />

geraten. Jazz, Beat- und Popmusik, Schlager mit englischen Texten, und seien sie noch so<br />

banal, gelten als „in". Deutsche Volkslieder zu singen gilt hierzulande - ganz im Gegensatz zur<br />

DDR - als hinterwäldlerisch und reaktionär. Nur <strong>für</strong> „Folklore" - ausländische Volksmusik -<br />

erwärmt man sich neuerdings. Insoweit ist das Schicksal <strong>des</strong> Lie<strong>des</strong> „Märkische Heide" nichts<br />

Besonderes. Und doch unterscheidet es sich in wesentlichen Punkten von anderen zur NS-Zeit<br />

gesungenen Liedern: Es wurde zwar ebenso wie <strong>die</strong> erwähnten Arbeiterlieder Ende der<br />

zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre von den Nationalsozialisten übernommen, <strong>die</strong><br />

linksorientierten Gruppen ließen es aber „links" liegen, obwohl es sich z. B. in dem „Liederbuch<br />

<strong>des</strong> Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold" 23 neben dem Deutschlandlied, neben „Was ist <strong>des</strong><br />

Deutschen Vaterland", „Stimmt an mit hellem, hohem Klang", „Der in Krieg will ziehen, der<br />

muß gerüstet sein", „Flamme empor", „Ich hatt' einen Kameraden", „Regiment sein' Straße<br />

zieht" und anderen Liedern <strong>die</strong>ser Art ausgesprochen harmlos und geradezu pazifistisch<br />

ausgenommen hätte.<br />

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