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Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins 1983

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inmitten der Ruinenfelder der trümmerübersäten Niederwallstraße, nur wenige Schritte von<br />

ihrer ersten Heimstätte entfernt -, nur auf Trampelpfaden erreichbar - in Klassenräumen, in<br />

denen das Fensterglas fehlte und der Putz von den Wänden bröckelte.<br />

Sechs Jahre vor der Einführung der Koedukation saßen nun auch Mädchen aus allen Teilen der<br />

Berliner Bevölkerung auf den Bänken <strong>des</strong> Gymnasiums, zu dem bisher nur Töchter aus<br />

Hugenottenfamilien zugelassen waren, womit <strong>die</strong> Schule der Entwicklung im Berliner Schulwesen<br />

um mehrere Jahre voraus war.<br />

Heute gehört das Französische Gymnasium, in einem mit allen pädagogischen Erfordernissen<br />

ausgestatteten modernen Gebäudekomplex im Bezirk Tiergarten untergebracht, zu den Eliteschulen<br />

besonderer Prägung in der Bun<strong>des</strong>republik Deutschland. Auch kann es bei weitem<br />

nicht alle Jungen und Mädchen, <strong>die</strong> Einlaß begehren, aufnehmen. Die Schüler aller Nationen,<br />

Konfessionen und Bevölkerungskreise, <strong>die</strong> aus allen Bezirken West-<strong>Berlins</strong> kommen - elitär in<br />

ihrem selbstgewählten Bildungsanspruch -, gehen hier gern zur Schule und akzeptieren <strong>die</strong><br />

hohen Anforderungen, <strong>die</strong> an sie gestellt werden, wissen sie doch, daß ihnen nach der Reifeprüfung<br />

hohe und höchste Stellen im privaten und öffentlichen Leben in Aussicht stehen.<br />

Kein Geringerer als Francois Poncet hat in seinem Glückwunschtelegramm zum 260. Geburtstag<br />

der Schule, in seiner damaligen Eigenschaft als Hochkommissar der Französischen Republik<br />

in Deutschland, eine anerkennende Feststellung getroffen, als er sagte, daß es nicht mehr<br />

möglich sei, sich Berlin ohne das Französische Gymnasium vorzustellen, denn <strong>die</strong>se Schule sei<br />

eine der besten der Stadt und sogar Deutschlands geworden.<br />

Beim Blättern in den Schülerlisten entdeckt man fast auf jeder Seite Persönlichkeiten, deren<br />

Namen heute noch in Literaturgeschichten und Nachschlagewerken zu finden sind. Zu ihnen<br />

gehört der französische Emigrant und zu einem Berliner gewordene Schriftsteller Adalbert von<br />

Chamisso, nach seinen Pazifik- und Arktisexpeditionen Adjutant und Kustos <strong>des</strong> Botanischen<br />

Gartens in Berlin, der auf Anweisung der Königin Friederike Luise, in deren Dienst der<br />

Fünfzehnjährige als Page stand, neben seinem Dienst das Französische Gymnasium besuchte.<br />

Hier empfing er den ersten geregelten Unterricht, hier lernte er <strong>die</strong> deutsche Sprache so intensiv,<br />

daß er nach kurzer Zeit Schillers Gedichte im Original lesen konnte, und hier zeichnete er sich in<br />

Rhetorik und in den klassischen Sprachen, wie es in den Schulprogrammen heißt, „in der<br />

vorteilhaftesten Seite ganz besonders" aus.<br />

Der elfjährige Heinrich von Kleist, der nach dem Tode seines Vaters zur Fortsetzung seiner<br />

schulischen Ausbildung in <strong>die</strong> Obhut eines Hugenotten, <strong>des</strong> Predigers und Professors am<br />

Französischen Gymnasium S. H. Catel, gegeben wurde, ging ein Jahr lang mit seinem<br />

Ziehvater täglich zur Schule, wo er fleißig Französisch lernte, das er zeitweilig „korrekter"<br />

gesprochen haben soll als seine Muttersprache.<br />

Der Barde <strong>des</strong> kaiserlichen Deutschland, Ernst von Wildenbruch, gedachte je<strong>des</strong>mal, wenn er<br />

als renommierter Dichter in der heute verschwundenen Niederlagstraße an der Hoftür <strong>des</strong> alten<br />

Gymnasiums, <strong>die</strong> den Schülern vorbehalten war, vorbeikam, der schönen Jahre, <strong>die</strong> er in der<br />

von ihm geschätzten Schule verbrachte.<br />

Der Seidenhändlerssohn Felix Ernst Witkowski, der unter dem Schriftstellernamen Maximilian<br />

Harden als Herausgeber der avantgardistisch-kämpferischen und umstrittenen Wochenschrift<br />

„Zukunft", <strong>des</strong> „Spiegels" <strong>des</strong> wilhelminischen Berlin, berühmt und ge<strong>für</strong>chtet wurde,<br />

lief als Primus der Sekunda <strong>des</strong> Gymnasiums von zu Hause fort und schloß sich einer<br />

wandernden Schauspieltruppe an. Im Jahre 1927 starb er im Schweizer Exil. Goebbels widmete<br />

ihm viele Jahre später einen makabren Nachruf: „Wir bedauern den Tod <strong>die</strong>ses Mannes nur<br />

insofern, als er uns <strong>die</strong> Möglichkeit raubte, mit Isidor Witkowski auf unsere Weise<br />

abzurechnen."<br />

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