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116 Franz-Josef Helten<br />
nah waren und ehe unsere Uniformträume in<br />
Erfüllung gingen, hatten wir amerikanisches<br />
Kaugummi im Mund.<br />
Einiges von dem, was sich vor dem Einrücken der<br />
Amerikaner abspielte, ist erwähnenswert, weil<br />
es zeigt, mit welcher Naivität wir Kinder die<br />
dramatischen Vorgänge erlebten. Eines Tages<br />
schickte meine Mutter mich ans Dorfende zu<br />
einem Mann, der bei der Reichsbahn arbeitete<br />
und häufiger Briefe für sie mit nach Essen<br />
nahm. An diesem Tag gab er mir den Brief zurück<br />
und sagte, ich solle meiner Mutter bestellen,<br />
die Amerikaner seien schon in Essen und<br />
würden wohl auch bald hier im Dorfe sein. Fassungslos<br />
lief ich nach Hause und übergab meiner<br />
Mutter Brief und Nachricht. Sie hielt den Brief<br />
in der Hand und sah schweigend meine Tante an,<br />
die ebenfalls sprachlos blieb.<br />
Ab jetzt hoffte ich, daß von den immer häufiger<br />
durch das Dorf ziehenden Soldaten welche bleiben<br />
würden, um uns zu verteidigen. Ich ahnte<br />
nicht, daß es sich um verstreute Einheiten handelte,<br />
die auf der Flucht vor den sich nähernden<br />
amerikanischen Truppen waren.<br />
Eines Tages hörten wir das Rasseln von Panzerketten<br />
und ein riesiger gelbbrauner Panzer fuhr<br />
langsam in unser Dorf und blieb auf einem kleinen<br />
Platz vor der Post stehen. Er hatte deutsche<br />
Hoheitszeichen und die älteren Jungen<br />
sagten, das sei der größte Panzer der Welt, ein<br />
Tigerpanzer und der sei unbesiegbar. Ich war<br />
überzeugt, der sollte unser Dorf verteidigen.<br />
Dann kam der Tag X , dem alle mit Spannung<br />
und sehr gemischten Gefühlen entgegensahen.<br />
Und da geschah unmittelbar vor dem Einrücken<br />
der Amerikaner etwas, was sich mir sehr tief<br />
eingeprägt hat. Wir aßen gerade zu Mittag, als<br />
plötzlich ein deutscher Soldat in unser Haus<br />
stürmte und seinen Karabiner abwarf, der klappernd<br />
über die Steinfliesen des Flures rutschte<br />
und gegen die Wand knallte. Der Mann riß sich<br />
aufgeregt seine Uniform vom Leibe und schrie<br />
nach Zivilkleidung, die meine Tante eiligst herbeischaffte.<br />
Kurz darauf war er verschwunden.<br />
Was folgte, hat im Rückblick aus der sicheren<br />
Distanz auch etwas tragikomisches. Man könnte<br />
also sagen: Auf dem Flurboden war der Zustand<br />
der deutschen Wehrmacht zu besichtigen. Und<br />
im Bewußtsein der jeden Augenblick möglichen<br />
Dorfbesetzung durch den Feind starrten alle<br />
Erwachsenen wie gelähmt auf die am Boden lie-<br />
gende, unerbetene gefährliche Hinterlassenschaft.<br />
Dann ergriff meine Mutter die Initiative,<br />
rollte alles zu einem Bündel zusammen,<br />
klemmte es unter den Arm, ergriff das Gewehr<br />
mit der freien Hand und rannte damit aus dem<br />
Haus durch das untere Dorf zum Waschteich.<br />
Dort versenkte sie alles.<br />
Wenig später rückten die Amerikaner in das mit<br />
weißen Laken beflaggte Dorf ein. Noch am selben<br />
Tag trauten wir Kinder uns in die Nähe der<br />
wider Erwarten freundlichen Amerikaner, die<br />
schnell unser Zutrauen gewannen, wozu gewiß<br />
auch Schokolade und Kaugummi beitrugen. Das<br />
letztere war für uns übrigens eine Weltneuheit,<br />
ein Bonbon, das nicht alle wurde, zum Schluß<br />
aber nicht mehr schmeckte!<br />
Wir kehrten sehr früh in die völlig zerstörte<br />
Stadt Essen zurück, wo die Trümmerlandschaften<br />
für die Erwachsenen niederdrückend wirkten,<br />
zugleich aber eine Herausforderung waren.<br />
Uns Kindern aber boten sie ein Abenteuerfeld<br />
mit fast uneingeschränkter Bewegungsfreiheit.<br />
Hinzu kam, daß auch keine Schule stattfand, da<br />
keine Räume vorhanden waren. So genossen wir<br />
unser Leben trotz aller widrigen Umstände.<br />
Einschnitte in unseren Freiraum brachte nur das<br />
oft stundenlange Schlange stehen für Lebensmittel<br />
und Kohle mit sich, das uns noch bis zur<br />
Währungsreform erhalten bleiben sollte. Wir<br />
taten das ohne Murren, oft schon vor der<br />
Schule, da Not und Knappheit uns gelehrt hatten,<br />
Unumgängliches zu akzeptieren.<br />
Wie aus dem Boden eines Gartens, auf dem der<br />
Winter nur verdorrte Pflanzen zurückließ, im<br />
Frühjahr überall grüne Triebe sprießen, wuchsen<br />
aus den Trümmern allmählich Häuser empor und<br />
es ging bergauf. Ich erinnere mich an eine<br />
Deutschstunde kurz vor der Währungsreform,<br />
in der unser Lehrer ein völlig verwandeltes Leben<br />
ankündigte :“Eure Mütter können dann für<br />
euch kaufen was und soviel sie wollen und ihr<br />
braucht nie mehr Schlange zu stehen; auf dem<br />
Markt laufen die Verkäufer ihnen nach, damit<br />
sie Ihnen Ware abkaufen.“<br />
Das war für uns unvorstellbar, so hatte der<br />
Mangel uns geprägt. -- Aber siehe es ging alles<br />
in Erfüllung! In der Rückschau könnte kein Film<br />
spannender sein als der Abschnitt der deutschen<br />
Geschichte, den wir erlebt haben. Generationen,<br />
die in den Wohlstand hineingeboren<br />
wurden, taten sich in manchem schwerer als die,