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200 Werner Trösken in der KLV<br />

Aus einem vorliegenden Schreiben, das der Bischof<br />

Faulhaber am 16. Juni 1945 dem Protestanten<br />

in München ausgestellt hatte, entnehme<br />

ich, dass es meinem Vater ein großes Anliegen<br />

war, die Familie möglichst schnell wieder zusammenzuführen.<br />

Mutter und Schwester hatte er<br />

glücklich in die unversehrte Wohnung nach Essen<br />

gebracht. Nun schwang er sich erneut auf<br />

sein Fahrrad(!), um seinen Sohn aus dem fernen<br />

Tirol heimzuholen. Der Hauer Karl Enders begleitete<br />

seinen Steiger bei dem Vorhaben. Ausgerüstet<br />

mit Bescheinigungen des Roten Kreuzes,<br />

der englischen Besatzungsmacht und des<br />

liebenswerten Bischofs, der die Knappen aus<br />

dem Ruhrgebiet in einer Privataudienz empfangen<br />

hatte, konnte mein Vater schließlich die<br />

Amerikaner dazu bewegen, einen Zug in Kitzbühel<br />

für die Heimführung aller KLV-Schüler<br />

bereitzustellen. Was zwanzig und mehr Studienräte<br />

nicht geschafft hatten, das schafften<br />

die beiden Kumpel innerhalb weniger Tage.<br />

„Nun machen wir noch eine Bergtour und dann<br />

geht‘s übermorgen ab in die Heimat,“ sagte mir<br />

mein Vater. Zu dritt bestiegen wir den kleinen<br />

Rettenstein. Auf dem Gipfel genossen wir die<br />

wunderbare Aussicht. Die friedvolle Bergwelt<br />

kam mir ganz unwirklich vor. Ich erlebte alles<br />

wie in einem schönen Traum. Beim Abstieg erfuhr<br />

ich von der schweren Erkrankung meiner<br />

Mutter. „Es geht ihr wieder gut, aber wir müssen<br />

sie noch lange schonen und nach Kräften<br />

entlasten,“ erklärte Paps.<br />

Auf dem Wege zum Dorf kam uns schon Herr<br />

Schichtel entgegen: „Die Franzosen haben Tirol<br />

übernommen. Sie müssen sofort über die Grenze.<br />

Alle arbeitsfähigen deutschen Männer sollen<br />

in Gefangenenlager nach Frankreich verschickt<br />

werden. Der Zug für den Rücktransport nach<br />

Essen ist aufgelöst worden.“ Wir packten<br />

schnell unsere wenigen Habseligkeiten. Der<br />

Abschied war überhastet und sehr schmerzlich.<br />

Jürgen und ich vergossen bittere Tränen. Ich<br />

durfte auf Vaters Rad als „Beifahrer“ mitfahren.<br />

Herr Enders wollte natürlich nicht Jürgen,<br />

sondern seinen Sohn auf dem Weg zur Grenze<br />

mitnehmen. Verflogen waren alle Gipfelträume!<br />

Die raue Wirklichkeit hatte uns in wenigen<br />

Stunden eingeholt.<br />

In Kiefersfelden gelangten mein Vater und ich<br />

auf Schleichwegen über die Grenze, nicht so<br />

sein Kumpel Enders, der den Franzosen in die<br />

Hände fiel. - Ich fand kurzfristig Aufnahme bei<br />

einer sehr netten, alten Dame, während mein<br />

Vater, der die englische und französische Sprache<br />

gut beherrschte, versuchte, seinen Begleiter<br />

durch Vorsprache bei den amerikanischen<br />

und französischen Besatzungsbehörden zu befreien.<br />

Die Verhandlungen zogen sich hin. Inzwischen<br />

hatte mein Vater erfahren, dass ein Güterzug<br />

evakuierte Familien zurück in das Ruhrgebiet<br />

bringen sollte. Er fand ein Ehepaar, das<br />

bereit war, mich mit nach Essen zu nehmen.<br />

Wieder ein schmerzlicher Abschied. Wieder<br />

ungewisse Zukunftsaussichten.<br />

Ich fand einen Platz dicht unter dem Waggondach<br />

auf einem Schrank. Sobald der Zug anhielt,<br />

sprangen die Leute aus den Zügen, verrichteten<br />

ihre Notdurft und suchten nach<br />

Trinkwasser. Manchmal standen wir ein oder<br />

zwei Tage auf einem Nebengeleis. Nach zehn<br />

langen Tagen und Nächten kamen wir endlich in<br />

Essen an. Erschreckt betrachtete ich die Trümmerwüstung<br />

(Wüstung = verlassene Siedlung),<br />

bedankte mich herzlich bei meiner „Pflegefamilie“<br />

und machte mich auf den Heimweg. Ich<br />

hatte nicht die geringste Ahnung, wo ich mich<br />

befand. Wenn eine Stadt in Schutt und Asche<br />

liegt, findet man kaum bekannte Orientierungspunkte.<br />

Leute, die mir begegneten, erkannten<br />

mich gleich als Heimkehrer: „Jüngsken, wo wilze<br />

denn hin? - Ah so, dann musse da hinten bis anne<br />

Ecke von die kaputte Kirche. Dann links inne<br />

Straße fährt ne Straßenbahn bis Abzweich Kaddernberch.“<br />

Heimatklänge! Ich war zu Hause!<br />

Als mir nach dem Klingeln von meinem „Mütterken“<br />

die Tür geöffnet wurde, atmete die liebe<br />

Frau hörbar ganz tief aus und sank ganz in sich<br />

zusammen. Die dann folgende Begrüßungsszene<br />

möchte ich nicht schildern, man schreibt halt<br />

schlecht mit Tränen in den Augen. Das Schwesterchen,<br />

das kleine Menschlein, das ich nur „bewindelt“<br />

kannte, lief nun schon vor uns herum! -<br />

Ich sah es meinen Eltern an, dass sie sich<br />

größte Sorgen um mich gemacht hatten. - Mein<br />

Vater war mit dem aus französischer Gefangenschaft<br />

befreiten Herrn Enders und 12 Schülern<br />

mit dem nächsten Evakuierungszug einen Tag<br />

vor mir nach Schonnebeck zurückgekehrt. - Nur<br />

wer selbst Kinder aufgezogen hat, kann sich<br />

vorstellen, wie verzweifelt meine Eltern auf die<br />

Ankunft ihres elfjährigen Sprößlings gewartet<br />

hatten. - Ich sehe heute noch das Bild vor mir,<br />

wie meine lieben Eltern glücklich, aber ganz<br />

abgeschlafft auf ihren Stühlen hocken.

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