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Unsere Klassenlehrer 25<br />

Nach der russischen Revolution verließ er St.<br />

Petersburg und ging nach Dorpat. Die Endphase<br />

des 1.Weltkriegs erlebte er auf der Seite der<br />

deutschbaltischen Truppen, die den Kampf gegen<br />

die Rote Armee, die das Baltikum besetzt<br />

hatte, führte. Die Schrecken dieser Zeit sind<br />

für ihn und seine Freunde prägend gewesen. Er<br />

ist in dieser Zeit ergraut, und seine Angst vor<br />

einem Vordringen des „Bolschewismus“ hatte<br />

hier ihre Wurzeln und verließ ihn sicher nie.<br />

Nachdem 1919 die Republik Lettland gegründet<br />

worden war, wurden der deutschen Minderheit<br />

viele Vorrechte, die sie vorher besessen hatte,<br />

genommen; politisch und wirtschaftlich war ihre<br />

Position schwierig. Mein Vater wurde Gymnasiallehrer<br />

am „Städtischen Deutschen Gymnasium“<br />

in Riga. Hier heiratete er, und hier wurden wir<br />

drei Kinder geboren.<br />

1939 wurden durch den Hitler-Stalin-Pakt die<br />

baltischen Staaten der russischen Interessenssphäre<br />

zugesprochen; die Deutschbalten wurden<br />

„heim ins Reich“ umgesiedelt und im frisch eroberten<br />

Polen im Reichsgau „Wartheland“ angesiedelt.<br />

Mein Vater übernahm in Leslau (heute<br />

wieder: Wloclawek) die Leitung des deutschen<br />

Gymnasiums. Die Deutschbalten hatten im Ausland<br />

sicherlich unzureichende und falsche Vorstellungen<br />

über das Dritte Reich entwickelt und<br />

verbanden mit der Umsiedlung viele illusionäre<br />

Hoffnungen auf bessere Bedingungen „im Deutschen<br />

Reich“. Mein Vater wurde Mitglied der<br />

NSDAP, weigerte sich aber, aus der Kirche auszutreten,<br />

was ihm angeraten wurde. Im Januar<br />

1945 wurde er, als die Front nahe rückte, in den<br />

Volkssturm einberufen, geriet bald in russische<br />

Kriegsgefangenschaft, wo er als Dolmetscher<br />

arbeiten konnte; nach seiner Entlassung ging er<br />

in den Westen, wurde hier aber von den Engländern<br />

interniert und erst zu Weihnachten 1945<br />

entlassen und fand seine Familie in Lübeck wieder.<br />

Im Sommer 1946 wurde in Wyk/Föhr eine private<br />

Oberschule gegründet, bei der mehrere<br />

deutschbaltische Lehrer und Schüler eine Lebensmöglichkeit<br />

fanden; mein Vater erhielt hier<br />

eine Anstellung, die er allerdings 1948 mit der<br />

Verstaatlichung der Schule wieder verlor. Da<br />

Schleswig-Holstein viel zu viele Flüchtlingslehrer<br />

hatte, bewarb sich mein Vater nach Nordrhein-Westfalen<br />

und bekam tatsächlich ab<br />

Ostern 1949 eine Stelle als Studienrat an der<br />

Humboldt-Schule in Essen. Er war über diese<br />

Lösung glücklich, obwohl die Umstellung auf eine<br />

ganz neue Umgebung mit einem ganz neuen<br />

„Menschenschlag“ für ihn, der immerhin damals<br />

schon 60 Jahre alt war, nicht leicht war. Zu seinen<br />

Kollegen hat er kaum engeren Kontakt gefunden;<br />

die Stadt Essen hat er nie geliebt –<br />

aber er hat sehr gern an dieser Schule unterrichtet,<br />

sogar über seine Pensionierung hinaus<br />

bis 1958; so konnte er auch die Abiturklasse<br />

1956 begleiten. Er hat sich über Kontakte zu<br />

früheren Schülern immer gefreut.<br />

In Erinnerung ist seinen früheren Schülern sicher<br />

seine deutschbaltische Aussprache geblieben<br />

– er war immer entrüstet, wenn jemand sie<br />

als ostpreußisch deutete. Man muss sich klar<br />

machen: er hat seine Ausbildung noch in der<br />

deutschen und russischen Kaiserzeit erlebt. Die<br />

deutsche Literatur der Klassik und des 19.Jahrhunderts<br />

war für ihn sicher der wichtigste Unterrichtsgegenstand<br />

– durch den deutschen<br />

Idealismus ist seine geistige Haltung geprägt<br />

gewesen.<br />

1963 ist er mit seiner Frau nach Bonn umgezogen,<br />

wo eine Tochter lebte. Er ist 85 Jahre<br />

alt geworden und ist am 6.12.1974 in Bonn gestorben.<br />

16.4.2006, Alf Schönfeldt

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