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Werner Trösken 175<br />

nennen, profitierte von unseren besseren Le-<br />

bensmittelrationen und war gar nicht mehr mürrisch.<br />

Er wurde mit jedem Pfund, das er zunahm,<br />

immer freundlicher.<br />

Als ich am 21. April zum Frühstück in der Küche<br />

erschien, verkündete mir unser Zimmerwirt la-<br />

chend: „Deine Mutter ist heute nacht ins Krankenhaus<br />

gegangen. Du hast ein Schwesterchen<br />

bekommen!“ - Endlich! Endlich hatte ich eine<br />

Schwester! Ich vergaß Frühstück und Schule<br />

und rannte sofort los, um meine Lieben zu be-<br />

grüßen. Ganz Dillenburg war mit Fahnen geschmückt.<br />

Das wunderte mich nicht, denn alle<br />

Welt freute sich mit mir. Von einem Tag auf den<br />

anderen war ich nicht mehr der jüngste Spross<br />

im Kreise unserer Verwandtschaft, sondern<br />

gleich der große Bruder, dem neue Aufgaben und<br />

Verantwortung zuflossen.<br />

In den nächsten Wochen und Monaten musste<br />

ich viel lernen. Zuneigung und Zuwendung der<br />

Eltern galten nicht mehr mir allein. Ich lernte zu<br />

teilen. Aus dem behüteten Knaben wurde recht<br />

bald der Behüter von Mutter und Schwester.<br />

Das war ich natürlich nur aus meiner Sicht. Aber<br />

ich fühlte mich von meiner Mutter durchaus in<br />

meiner Haltung bestärkt, weil sie mit mir im<br />

Laufe der Zeit immer öfter Gespräche führte,<br />

in denen sie mich an ihren Sorgen teilhaben ließ.<br />

1944 mussten wir auch in Dillenburg öfter mal<br />

den Schutzkeller aufsuchen. Als wir in einer<br />

dieser Bombennächte wieder ins Freie traten,<br />

war der südliche Nachthimmel rot erleuchtet:<br />

Wetzlar brannte. - Am nächsten Morgen erzählten<br />

die Kinder in der Schule, ein feindlicher<br />

Bomber sei ins Nanzenbachtal gestürzt. Als ich<br />

nachmittags die Absturzstelle mit einigen Klassenkameraden<br />

erreichte, wurden gerade vier<br />

tote Engländer auf einen Lastwagen verbracht.<br />

Die jungen Kerle in ihren olivfarbenen Monturen<br />

waren die ersten Engländer, die ich zu sehen bekam.<br />

Nur zwei Besatzungsmitglieder hatten den<br />

Abschuss der Lancaster überlebt und gerieten<br />

in Gefangenschaft.<br />

Dieses Kriegsereignis wäre eigentlich gar nicht<br />

weiter erwähnenswert, zumal Bombentrichter,<br />

Ruinen, Wrackteile abgeschossener Flugzeuge<br />

und Kriegsgefangene damals für jeden von uns<br />

ein gewohnter Anblick waren. Was mich jedoch<br />

so fasziniert und nachdenklich stimmt, ist die<br />

Tatsache, dass das Nanzenbachtal seit Jahrhunderten<br />

in geheimnisvoller Weise in meiner<br />

Familie eine große Rolle spielt. An manchen Or-<br />

ten verknüpfen halt die Nomen die Schicksalsfäden<br />

zu einem dicken Knoten. So hätte ich es<br />

mir z. B. damals nicht träumen lassen, dass ein-<br />

mal sechzig Meter oberhalb der Stelle, an der<br />

einst die verhassten Feinde verladen wurden,<br />

unser Haus stehen würde. Von meinem Schreibtisch<br />

aus blicke ich über die Straße hinweg zum<br />

nahen Weiher, in dem die Lancaster-Kanzel lag,<br />

die das Elternhaus meines Schwagers nur um<br />

hundert Meter verfehlte. Und dort oben, am<br />

Einstieg in unser Hochtal, haben vor Jahrzehnten<br />

meine Eltern gestanden. Die bewaldeten<br />

Bergrücken an den Talseiten, die sattgrünen<br />

Wiesen, durch die sich der Nanzenbach bis zu<br />

dem großen Weiher schlängelt, müssen meinen<br />

Vater so sehr beeindruckt haben, dass er spon-<br />

tan den Wunsch äußerte: „Wenn ich in den Ruhe-<br />

stand versetzt werde, möchte ich hier unser<br />

Häuschen bauen!“ Nach dem Unfalltod meines<br />

Vaters setzte meine Mutter sein Vorhaben 1956<br />

in die Tat um. Weitere Einzelheiten muss ich mir<br />

verkneifen, weil sie vom eigentlichen Thema<br />

ablenken. Doch will ich schnell abschließend noch<br />

hinzufügen, dass mir mein Schwiegersohn just in<br />

diesen Minuten mitteilte, dass er mit meinen<br />

Lieben demnächst wieder für drei bis fünf<br />

Jahre nach England zieht. - Nach England! In<br />

das Land derer, die uns einst den Luftterror<br />

bescherten! Welch ein wahnsinniges Unterfan-<br />

gen ein Krieg zwischen unseren Völkern ist, mache<br />

ich mir immer an der Tatsache klar, dass<br />

mehr als ein Dutzend „of very British Subiects“<br />

(„subject“ = Untertan der Krone) seit 1958<br />

Gäste in unserem Hause waren und künftig si-<br />

cherlich auch sein werden. - David und Sally mit<br />

ihren Töchtern feierten hier den Jahresbeginn<br />

2006. Martin Read (- Englischer Schauspieler,<br />

bei uns bekannt als „Captain Iglu“ in der TV -<br />

Reklame für Fischstäbchen. -), Frau Joe und<br />

Töchter verbrachten im letzen Sommer bei uns<br />

ihre Urlaubstage. Der Großvater von Sally war<br />

engl. Besatzungssoldat. Der Vater von Martin<br />

war brit. Soldat in Munster und liegt dort auf<br />

deutschem Boden begraben. Unsere Enkelkinder,<br />

Katharina und Jau, haben in Watlington die<br />

Primary School besucht. Opa Werner bekommt<br />

vor Freude feuchte Augen, wenn sich seine<br />

Lieblinge im reinsten „Oxford-English“ mit ihren<br />

britischen Freunden unterhalten.<br />

Hier musste ich leider aus zeitlichen Gründen (siehe oben)<br />

mit dem Scannen aufhören; viele weitere Seiten ruhen in<br />

meinem Klassenordner. HW

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