Einführung in die Linguistik
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100 KAPITEL 6. SEMANTIK<br />
a) W und V geraten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en <strong>in</strong>f<strong>in</strong>iten Regress: sie begründen p 1 durch p 2 ,<br />
p 2 durch p 3 , p 3 durch p 4 usw., wobei alle p i paarweise verschieden (d.h.<br />
nicht äquivalent) s<strong>in</strong>d. Das können sie pr<strong>in</strong>zipiell unendlich lange tun.<br />
b) W und V geraten — unbeabsichtigterweise — <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Zirkel: Irgende<strong>in</strong>e<br />
Behauptung p i ist mit e<strong>in</strong>er Behauptung p j (mit i > j) (u.U. nichtoffensichtlicherweise)<br />
äquivalent. D.h. W und V begründen p i durch p i .<br />
c) W und V brechen <strong>die</strong> Reihe der Begründungen bei e<strong>in</strong>em p i dogmatisch<br />
ab. (Sie erklären <strong>die</strong>ses p i vielleicht für “unmittelbar evident”. Sie führen<br />
p i als nicht weiter zu begründendes Grundaxiom <strong>in</strong> ihre Theorie e<strong>in</strong>.)<br />
Es ist leicht zu sehen, dass es für <strong>die</strong> Semantik e<strong>in</strong>e spezielle Version <strong>die</strong>ses<br />
Trilemmas gibt: Sei Z e<strong>in</strong> natursprachlicher Ausdruck. E<strong>in</strong> Semantiker def<strong>in</strong>iert<br />
<strong>die</strong> Bedeutung von Z mittels der Ausdrücke Z ′ 1 bis Z ′ n . Nun muss er allerd<strong>in</strong>gs<br />
auch <strong>die</strong> Bedeutung von Z ′ 1 bis Z ′ ′′<br />
n def<strong>in</strong>ieren, z.B. durch <strong>die</strong> Ausdrücke Z 1<br />
′′<br />
bis Z n usw. Es spielt für <strong>die</strong> Semantikversion des Münchhausen-Trilemmas<br />
ke<strong>in</strong>e Rolle, ob <strong>die</strong> Z ′ ′′<br />
i , Z i usw. Ausdrücke aus e<strong>in</strong>er natürlichen oder e<strong>in</strong>er<br />
künstlichen Sprache s<strong>in</strong>d. Es spielt auch ke<strong>in</strong>e Rolle, ob sie alle aus paarweise<br />
verschiedenen Sprachen s<strong>in</strong>d oder nicht. Der wohl vernünftigste Ausweg aus dem<br />
semantischen Münchhausen-Trilemma ist <strong>die</strong> Möglichkeit c): Gewisse Ausdrücke<br />
(aus e<strong>in</strong>er natürlichen oder künstlichen Sprache) werden nicht def<strong>in</strong>iert, sondern<br />
als Ausdrücke mit nicht mehr weiter analysierbarer Bedeutung, als semantische<br />
Simplizia (S<strong>in</strong>gular: semantisches Simplex ausgezeichnet.<br />
6.1.4 Das Problem der Trennung semantischer und ontologischer<br />
Behauptungen<br />
Def<strong>in</strong>ition 326 Ontologie.<br />
es gibt.<br />
Theorie darüber, welche Arten von Entitäten<br />
Anmerkung 46 Ontologie.<br />
Oft spricht man von der Ontologie M/O e<strong>in</strong>er Theorie T . Damit me<strong>in</strong>t man<br />
(<strong>die</strong> Theorie der) Menge der Entitäten, deren Existenz T voraussetzt. Beispiele:<br />
Ontologie der Phonologie: {Phonem, Phon, Silbe, suprasegmentales Merkmal,<br />
segmentales Merkmal, ...}. Ontologie der Physik: {Kraft, Energie, Atom, Elektron,<br />
...}.<br />
Anmerkung 47 Ontologie.<br />
Aufgabe des Semantikers ist, zu beschreiben, wie man mit natürlichen Sprachen<br />
über <strong>die</strong> Welt redet, nicht wie <strong>die</strong> Welt ist. In e<strong>in</strong>e Enzyklopä<strong>die</strong> gehört<br />
ontologische Information, d.h. Information über <strong>die</strong> Entitäten, auf <strong>die</strong> wir mit<br />
den Wörtern referieren oder referieren wollen. In e<strong>in</strong> Lexikon dagegen gehört<br />
semantische Information, d.h. Information darüber, welche Bedeutungen <strong>die</strong><br />
Wörter haben und <strong>in</strong> welchen semantischen Relationen sie zue<strong>in</strong>ander stehen.<br />
Man spricht deswegen statt vom Problem der Trennung ontologischer und semantischer<br />
Behauptungen auch vom Problem der Trennung enzyklopädischer<br />
und lexikograpischer Information.