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Einführung in die Linguistik

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102 KAPITEL 6. SEMANTIK<br />

b) X (<strong>die</strong> Sonne, der Mond, e<strong>in</strong> Stern) geht auf := X wird am Horizont<br />

sichtbar.<br />

Def<strong>in</strong>ition 65 b) enthält ke<strong>in</strong>e unnötigen Behauptungen über Planeten, Sterne<br />

usw., d.h. Behauptungen über tatsächlich (<strong>in</strong> der Welt) bestehende Sachverhalte<br />

und ist somit “ontologiefreier” als Def<strong>in</strong>ition a). Andererseits ist Def<strong>in</strong>ition<br />

a) präziser. Außerdem weiß heutzutage jeder, was tatsächlich der Fall ist, wenn<br />

<strong>die</strong> Sonne oder der Mond aufgeht. Insofern könnte man <strong>die</strong> Ansicht vertreten,<br />

dass <strong>die</strong> <strong>in</strong> a) gemachten Behauptungen bereits <strong>in</strong> der Bedeutung von aufgehen<br />

stecken.<br />

E<strong>in</strong> weiteres Problem mit aufgehen besteht dar<strong>in</strong>, dass wir dadurch, dass<br />

wir ihm im Lexikon e<strong>in</strong>en eigenen E<strong>in</strong>trag reservieren und es zum Beispiel als<br />

Ereignisverb klassifizieren, <strong>in</strong> <strong>die</strong> Versuchung kommen, zu glauben, es gäbe <strong>die</strong><br />

natürliche Klasse der “Aufgehereignisse”, so wie es <strong>die</strong> natürlichen Klassen der<br />

Sterbe-, der Explosions- und der Kopulationsereignisse gibt. Doch es ist nicht so,<br />

dass es Entitäten oder Arten von Entitäten schon dann gibt, wenn wir e<strong>in</strong> Wort<br />

für “sie” haben. Wenn das so wäre, dann könnten wir <strong>die</strong> Zahl der Entitäten <strong>in</strong><br />

der Welt e<strong>in</strong>fach dadurch vermehren, dass wir neue Begriffe e<strong>in</strong>führen.<br />

Beispiel 66 künstliche Vermehrung der Entitäten. 1 Ich def<strong>in</strong>iere: “E<strong>in</strong>e<br />

Entität heiße Zachs gdw. sie entweder e<strong>in</strong>e Zahl oder e<strong>in</strong> Dachs ist.” Wir würden<br />

nicht sagen, dass es Zachse gibt, nur weil jetzt <strong>die</strong>se Def<strong>in</strong>ition auf e<strong>in</strong>em Papier<br />

oder Bildschirm zu lesen ist.<br />

Der Semantiker sollte sich ja eigentlich überhaupt nicht darum kümmern, ob<br />

<strong>die</strong> angebliche Entität oder Klasse von Entitäten, <strong>die</strong> e<strong>in</strong> Wort bezeichnet, tatsächlich<br />

existiert bzw. ob e<strong>in</strong>e bestimmte Art, über <strong>die</strong> Welt zu reden der Welt<br />

angemessen ist. Das Wort E<strong>in</strong>horn ist ebenso bedeutungsvoll und deswegen für<br />

den Semantiker <strong>in</strong>teressant wie das Wort Nashorn. Also muss der Semantiker<br />

doch aufgehen als Verb e<strong>in</strong>er bestimmten Klasse <strong>in</strong>s Lexikon schreiben, auch<br />

wenn er der Ansicht ist, dass es Aufgehereignisse als natürliche Klasse von Ereignissen<br />

eigentlich nicht gibt. Ebenso muss der Semantiker lassen <strong>in</strong>s Lexikon<br />

schreiben und festhalten, dass Regen <strong>die</strong> Agensargumentstelle von lassen besetzen<br />

kann. Welchen Grund hat der Semantiker dann aber, zu behaupten, das<br />

Substantiv Regen gehöre <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e andere semantische Klasse als etwa Förster?<br />

vgl. Beispiele 67:<br />

Beispiele 67 Ontologie vs. Semantik.<br />

a) Der Regen ließ den Bürgermeister nicht zur Ruhe kommen.<br />

b) Der Förster ließ den Bürgermeister nicht zur Ruhe kommen.<br />

Wenn wir nur <strong>die</strong>se zwei Sätze betrachten, kommen wir zu dem Schluss, dass<br />

es ontologische Intuitionen se<strong>in</strong> müssen, <strong>die</strong> uns dazu bewegen, Regen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e<br />

andere semantische Klasse zu stecken als Förster: Wir wissen eben, dass e<strong>in</strong><br />

Regen etwas ganz anderes ist als e<strong>in</strong> Förster. Doch vielleicht können wir re<strong>in</strong><br />

semantische Gründe dafür f<strong>in</strong>den, wenn wir noch mehr Sätze betrachten:<br />

Beispiele 68 Ontologie vs. Semantik.<br />

1 Diese Def<strong>in</strong>ition habe ich nicht frei erfunden. Sie lehnt sich an <strong>in</strong> der Analytischen Philosophie<br />

beliebte Gedankenspiele an.

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