Einführung in die Linguistik
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6.1. GRUNDBEGRIFFE UND -PROBLEME DER SEMANTIK 101<br />
Um deutlich zu machen worum es bei <strong>die</strong>sem Problem geht, betrachten wir<br />
zunächst e<strong>in</strong>en relativ klaren Fall: Wir wissen, dass Wasser <strong>die</strong> chemische Struktur<br />
H 2 O hat. Wir würden deswegen aber nicht sagen, dass jemand, der das deutsche<br />
Wort Wasser im Großen und Ganzen wie alle anderen Sprecher gebraucht<br />
(wie z.B. <strong>in</strong> Gib mir etwas Wasser, ich b<strong>in</strong> durstig!), aber nicht weiß, dass Wasser<br />
H 2 O ist, <strong>die</strong> Bedeutung von Wasser nicht verstanden hat. Deswegen hat <strong>die</strong><br />
Information, dass Wasser H 2 O ist, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Beschreibung der Bedeutung von<br />
Wasser nichts zu suchen.<br />
Oft divergieren unsere Ansicht über <strong>die</strong> tatsächlichen ontologischen Verhältnisse<br />
und unsere natursprachlich-semantischen Intuitionen. Beispiele dafür, wie<br />
<strong>die</strong> natürliche Sprache Entitäten im Widerspruch zur allgeme<strong>in</strong> für wahr gehaltenen<br />
Ontologie klassifiziert: Kl<strong>in</strong>gone, Vulkanier und Marsmensch s<strong>in</strong>d Hyponyme<br />
(Unterbergriffe) von Außerirdischer. Phlogiston ist e<strong>in</strong> Hyponym von<br />
Substanz. T<strong>in</strong>tenfisch ist e<strong>in</strong> Hyponym von Fisch. Wenn man <strong>die</strong> natürliche<br />
Sprache völlig ernst nehmen würde, dann müsste man u.a. Folgendes glauben:<br />
“Aufgehen” ist e<strong>in</strong> Ereignis, <strong>in</strong> das von Zeit zu Zeit <strong>die</strong> Sonne, der Mond, <strong>die</strong><br />
Sterne und eventuell Lichter (Ihm g<strong>in</strong>g e<strong>in</strong> Licht auf ) <strong>in</strong>volviert s<strong>in</strong>d. “Zunahmen”<br />
s<strong>in</strong>d ab und zu als aktive Partizipanten <strong>in</strong> “Zw<strong>in</strong>gereignisse” <strong>in</strong>volviert: Die<br />
Zunahme der Zahl von Arbeitslosen zw<strong>in</strong>gt <strong>die</strong> Politik zum Handeln. Der Regen<br />
ist ab und zu <strong>in</strong> “Lassereignisse” <strong>in</strong>volviert: Der Sommerregen ließ <strong>die</strong> Früchte<br />
gedeihen. Auch auf der grammatischen Ebene weist <strong>die</strong> natürliche Sprache<br />
— Sprachen s<strong>in</strong>d ja ab und zu <strong>in</strong> Aufweisereignisse bzw. -zustände <strong>in</strong>volviert<br />
— Divergenzen zur allgeme<strong>in</strong> geglaubten Ontologie auf: Das Deutsche teilt alle<br />
Entitäten e<strong>in</strong> <strong>in</strong> “männliche”, “weibliche” und “sächliche”. In Dyirbal, e<strong>in</strong>er australischen<br />
Sprache, gibt es e<strong>in</strong>e morphosyntaktische Klasse für Bezeichner von<br />
Männern, Fledermäusen, Stürmen und “ähnlichen” Entitäten (Determ<strong>in</strong>ator, der<br />
vor <strong>die</strong>sen Substantiven stehen muss: bayi). In e<strong>in</strong>e weitere morphosyntaktische<br />
Klasse gehören Bezeichner von Honig, Farnen, Zigaretten und “ähnlichen” Entitäten<br />
(Determ<strong>in</strong>ator: balam). E<strong>in</strong>e weitere morphosyntaktische Klasse ist für<br />
Substantive reserviert, <strong>die</strong> Körperteile, Bienen, W<strong>in</strong>d und “ähnliche” Entitäten<br />
bezeichnen (Determ<strong>in</strong>ator: bala). Schließlich gibt es noch e<strong>in</strong>e Klasse für<br />
Substantive, <strong>die</strong> Feuer, Skorpione, Frauen und andere gefährliche Entitäten bezeichnen<br />
(Determ<strong>in</strong>ator: balan) (vgl. [31]).<br />
Man kann sicher davon ausgehen, dass heutige Dyirbal-Sprecher <strong>die</strong> durch<br />
ihre Muttersprache implizierte Ontologie genausowenig ernst nehmen, wie wir<br />
Tische für männliche, Mädchen für sächliche und Behauptungen für weibliche<br />
Entitäten halten. Das heißt, grammatische Kategorien wie Genus können wir<br />
wohl nicht als für <strong>die</strong> semantische Beschreibung von Wörtern direkt relevant<br />
betrachten. Wie steht es aber mit Prädikaten wie “aufgehen”. Sollen wir eher<br />
Def<strong>in</strong>itionen der Art von Beispiel 65 a) oder <strong>in</strong> der Art von Beispiel 65 b) <strong>in</strong><br />
Lexika schreiben?<br />
Beispiele 65 Ontologie vs. Semantik.<br />
a) X geht (von O auf Y aus gesehen) auf := X ist e<strong>in</strong> Stern, Planet oder<br />
Trabant, der um e<strong>in</strong>en Planeten oder Trabanten Y kreist bzw. um den e<strong>in</strong><br />
Planet oder Trabant Y kreist, und X bef<strong>in</strong>det sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Stellung zu Y<br />
derart, dass von Ort O auf Y aus gesehen, X — entweder aufgrund der<br />
Bewegung von X oder aufgrund der Bewegung von Y — gerade sichtbar<br />
wird.