DIPLOMARBEIT - Institut für Germanistik - Universität Wien
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O Herr! mein Herr!<br />
PRIESTER Erheb die Zweige! Schnell!<br />
Es geschieht. Gerechte Götter!<br />
Ihr nahmt ihn an. Er fiel von Eurer Hand!<br />
JANTHE noch immer die Zweige haltend:<br />
Erbarmt sich Niemand? Nirgends Beistand, Hilfe?<br />
PRIESTER Laß das und komm!<br />
Indem er sie anfaßt: Hörst du? und schweig! Entfällt<br />
Ein einzig Wort von dem was du vernahmst –<br />
Sich von ihr entfernend, laut:<br />
Ein Fremder ist der Mann, ein Unbekannter,<br />
Den aus das Meer an diese Küste warf,<br />
Und jene Priestrin sank bei seiner Leiche,<br />
Weil es ein Mensch, und weil ein Mensch erblich. […]<br />
TEMPELHÜTER leise: So ists denn – ?<br />
PRIESTER Schweig! (HKA, S. 84-85, V. 1901-1917)<br />
Der Priester ist vom ersten Augenblick bemüht, diesen potenziellen Skandal unter den Teppich<br />
zu kehren. Selbst als seine Ziehtochter Hero vor Kummer „ohne Besinnung zu Boden<br />
sinkt“ (HKA, S. 84, Regieanweisung vor V. 1901), zeigt er kein Mitleid. Denn Hero hat mit<br />
ihrem Verhalten die Stabilität des patriarchalen Systems gefährdet – und damit die Gunst ihres<br />
Onkels verspielt. Anstatt Mitgefühl <strong>für</strong> das Mädchen zu zeigen, betont der Priester Heros<br />
„Fehl“ und bedroht sie mit dem Zorn der Götter:<br />
PRIESTER Da’s nun geschehn.<br />
HERO Geschehen? Nein!<br />
PRIESTER Es ist!<br />
Die Götter laut das blut’ge Zeugnis gaben,<br />
Wie sehr sie zürnen, und wie groß dein Fehl;<br />
So laß in Demut uns die Strafe nehmen;<br />
Das Heiligtum, es teile nicht die Makel,<br />
Und ew’ges Schweigen decke was geschehn. (HKA, S. 86, V. 1925-1930)<br />
Die Wortwahl des Priester-Onkels zeigt deutlich, wie konsequent er sich seine Wahrheit zurechtlegt.<br />
Leanders Tod steht eindeutig in Zusammenhang mit dem Verhalten des Priesters,<br />
der die Lampe in den Sturm gestellt und ihr Erlöschen damit bewusst in Kauf genommen hat:<br />
„Der Götter Sturm verlösche deine Flamme!“ (HKA, S. 80, V. 1817) ruft er bei seiner verhängnisvollen<br />
Tat. Nachdem Leander im Meer ertrunken ist, behauptet der Priester, dass dieser<br />
Tod schlicht „geschehn“ (HKA, S. 86, V. 1925) sei, ähnlich wie ein Missgeschick, das<br />
nicht zu verhindern gewesen wäre. „Ew’ges Schweigen“ (HKA, S. 86, V. 1930) solle das tragische<br />
Ende des Jünglings aus Abydos <strong>für</strong> immer vergessen machen. In ihrem Schmerz wagt<br />
es Hero, sich entschieden gegen diese euphemistische Sprachregelung des Onkels zu wehren:<br />
Offen bezichtigt sie ihn der Schuld an Leanders Tod:<br />
HERO Verschweigen ich, mein Glück und mein Verderben,<br />
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