DIPLOMARBEIT - Institut für Germanistik - Universität Wien
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Emotionen zwar ohne hintergründiges Kalkül, jedoch unmittelbar, authentisch und selbstbewusst<br />
auslebt.<br />
Zusammenfassend lässt sich Rahels Charakter als Summe aus mehreren unkonventionellen<br />
Eigenschaften beschreiben. An der Spitze dieser <strong>für</strong> Frauen der Biedermeierzeit äußerst<br />
untypischen Merkmale steht die natürliche, ungezähmte Weiblichkeit ihres Körpers. Grillparzers<br />
Schilderung körperlicher Details – die er bei Hero sowie Mirza/Gülnare ausklammert –<br />
unterstreicht die sexuelle Attraktivität Rahels. Dennoch greift eine Reduktion Rahels auf ihre<br />
Körperlichkeit zu kurz. Denn Rahels Wesen überschreitet noch in manch anderer Hinsicht die<br />
Normen der patriarchalen Gesellschaft: Vater und Schwester bezeichnen Rahel daher als<br />
schlecht erzogenes, verwildertes Mädchen. Doch kindliche Naivität ist keine angemessene<br />
Kategorie, um eine junge Frau wie Rahel treffend zu beschreiben, die sich durch Talent zur<br />
Provokation, anarchische Aufmüpfigkeit und unbeirrbaren Willen auszeichnet.<br />
3.3.2 Stellung im patriarchalen Gesellschaftsgefüge<br />
Rahels Stellung innerhalb des patriarchalen Gesellschaftsgefüges ist von Benachteiligung<br />
gekennzeichnet: „Sie ist umgeben von männlichen Gestalten, die sie dominieren und<br />
besitzen wollen.“ 201 Gemessen an den Maßstäben eines patriarchalen, christlichen Normenkodex<br />
vereint Rahel in sich eine Fülle von Attributen, die ihre niedrige soziale Stellung bedingen.<br />
Rahel ist nicht nur „bloß“ eine Frau, sondern sie verkörpert in den Augen der Vertreter<br />
der patriarchalen Gesellschaftsordnung eine besondere Kombination aus mehreren negativen<br />
Eigenschaften: Sie ist Jüdin – und daher gefährlich; sie ist noch sehr jung – und daher unberechenbar;<br />
sie ist schön – und daher leicht zum Lustobjekt degradierbar; sie ist möglicherweise<br />
ein uneheliches Kind – und daher geächtet. Doch Rahels Schlechterstellung wird nicht erst im<br />
Kontakt mit den Mitgliedern des Königshofes sichtbar, sondern zeigt sich schon in ihrer Herkunftsfamilie,<br />
wo sie von ihrem Vater Isak ständig mit der tugendhaften Halbschwester Esther<br />
verglichen wird. In den Aussagen des Vaters über seine Tochter Rahel schwingt Verachtung<br />
mit. Er unterstellt ihr sogar, das Kind einer außerehelichen Affäre der Mutter mit einem<br />
Christen zu sein:<br />
ISAK Ja, wie deine Mutter, gelt?<br />
Die sah auch nach schmucken Christen […],<br />
Hielt ich sie nicht streng bewacht,<br />
Glaubt’ ich – nu, Gott wird verzeihen! –<br />
Deine Torheit stamme dorther,<br />
Sei ein Erbteil schnöder Christen.<br />
Da lob’ ich mein erstes Weib,<br />
201 Lorenz, Dagmar C. G.: Die Darstellung jüdischer Gestalten bei Grillparzer, S. 23.<br />
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