DIPLOMARBEIT - Institut für Germanistik - Universität Wien
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deshalb regelt er alle Dinge nach seinem Gutdünken: die Götter dienen ihm nur noch als<br />
pseudometaphysische Legitimation <strong>für</strong> sein kalkuliertes, zweckrationales Handeln.“ 174<br />
Neben der Androhung von Strafen und der Berufung auf religiöse Gesetze bedient sich<br />
Priester allerdings auch weitaus weltlicherer Maßnahmen, um sein Herrschaftssystem aufrechtzuerhalten.<br />
Geschickt zwingt er Hero nach der Liebesnacht mit Leander zu einem fingierten<br />
Botendienst, der die ohnehin von der durchwachten Nacht erschöpfte Priesterin noch<br />
mehr ermüdet. Zu spät erkennt Hero, dass sie das Opfer einer List geworden ist: „Mit Absicht<br />
tatet ihrs“ (HKA, S. 75, V. 1678), stellt sie verärgert fest und nimmt sich trotzig vor: „Ein<br />
andermal will ich wohl klüger sein“ (HKA, S. 75, V. 1682). Als Konsequenz dieses Hinterhalts<br />
fasst sie den Entschluss: „Ich denke künftig selbst mir zu gebieten“ (HKA, S. 75, V.<br />
1687). Heros verfrühter Schlaf nach diesem fingierten und ermüdenden Botengang bietet dem<br />
Onkel die Gelegenheit, die Lampe in den Sturm zu stellen und damit Leanders Tod zu besiegeln.<br />
Dieser mörderische Plan offenbart den wesentlichsten Unterschied zwischen Hero und<br />
dem Onkel: Der Priester verfügt über die Fähigkeit, vorausschauend zu denken, das Verhalten<br />
anderer Personen zu berechnen und sie gezielt <strong>für</strong> seine Zwecke zu manipulieren. Ähnlich<br />
einem Verhör versucht der Priester zunächst, Janthe unter Druck zu setzen und ihr Hinweise<br />
auf die Geschehnisse der vergangenen Nacht zu entlocken. Doch Janthes Loyalität gegenüber<br />
Hero ist stärker als ihre Furcht vor dem Priester oder dem Verlust ihrer Stellung als Dienerin<br />
im Tempel:<br />
PRIESTER Von allem was sich Schlimmes je begab<br />
In diesem Haus, fand ich dich immer wissend,<br />
Belehrt durch Mitschuld, oder Neugier mindstens.<br />
Nun meldet man, daß sich in dieser Nacht<br />
Verdächtig Treiben hier am Turm geregt.<br />
Auch fand dich dieser Mann, da alles schlief,<br />
Noch wachend und gekleidet in den Gängen.<br />
Drum steh ihm Red und sage was du weißt.<br />
Er entfernt sich.<br />
JANTHE Bei allen Göttern, Herr –<br />
PRIESTER zurücksprechend: Laß du die Götter!<br />
Und sorg erst wie den Menschen du genügst.<br />
JANTHE Nichts weiß ich ja; ich hörte nur Bewegung,<br />
Ein Kommen und ein Gehn. Die Nacht war schwül;<br />
Da lauscht’ ich vor der Tür, und ging dann schlafen.<br />
(HKA, S. 63, V. 1377-1389)<br />
Doch der Priester durchschaut Janthe sofort: „Denn daß du weißt, zeigt mir dein ängstlich<br />
Zagen“ (HKA, S. 63, V. 1395). Mit ähnlich kriminalistischem Spürsinn ahnt der Priester, dass<br />
174 Ebd., S. 613.<br />
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