DIPLOMARBEIT - Institut für Germanistik - Universität Wien
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Ähnlich wie bei Rahel 202 liegen auch bei König Alphons die Wurzeln seines Verhaltens<br />
in der Kindheit. Die betörende Wirkung, die Rahel auf ihn ausübt, wird durch die königlichen<br />
Kindheitserlebnisse erklärbar, über die Grillparzer detailliert Auskunft gibt: Als „ein<br />
Vaterloser / Der Mutter früher schon beraubter Knabe“ (HKA, S. 488, V. 106-107), verlebt<br />
König Alphons eine elternlose Kindheit, die ganz auf seine Zukunft als Herrscher ausgerichtet<br />
ist. Er lebt umgeben von männlichen, erwachsenen Ratgebern, den „tausend bärt’gen Kehlen“<br />
(HKA, S. 489, V. 130). 203 Politzer macht diese frühen Jahre <strong>für</strong> Alphons’ späteres staatsgefährdendes<br />
Verhalten verantwortlich, „da sich seinen Nerven politische Räson als die Verkehrung<br />
alles Natürlichen und als Gefährdung der eigenen Existenz eingeprägt hatte.“ 204 Die<br />
patriarchalen Machtstrukturen – verkörpert von ehrgeizigen Höflingen und Ratgebern wie<br />
Graf Manrike – haben das Waisenkind Alphons um seine Kindheit gebracht. So wird die gefühlvolle<br />
Rahel, die den Gegenpol zu vernunftbetontem, staatsmännischem Handeln verkörpert,<br />
<strong>für</strong> Alphons erstmals zum Inbegriff eines lustbetonten Lebens. Politzer betrachtet Rahel<br />
offenbar aus einem ähnlichen Blickwinkel wie der König, wenn er sie „die Verkörperung der<br />
Wollust [sic]“ nennt, die „des anderen bedarf, um sich selbst zu spüren, um dazusein.“ 205 Diese<br />
einseitige Deutung, die Rahel als gänzlich triebgesteuertes Wesen versteht, greift freilich<br />
zu kurz. Denn es ist weit mehr als nur ihre sexuelle Attraktivität, die Rahel in den Augen der<br />
Königstreuen gefährlich macht:<br />
In der Jüdin von Toledo präsentiert Grillparzer die rebellische Dimension der weiblichen<br />
Erotik. In der lustvollen Maskierung, im anarchischen Spiel, in der „wahnsinnigen“<br />
Liebe löst Rahel das starre männliche System der Triebunterdrückung auf, zerstört<br />
sie die patriarchalische Ordnung – und muß aus eben diesem Grund Opfer werden.<br />
Sie […] muß beseitigt werden, damit ebendiese Ordnung gerettet wird. 206<br />
Die erste, die das revolutionäre Potenzial von Rahels Verhalten erkennt, ist die Königin.<br />
Schon in der Szene im Englischen Garten wendet sich Eleonore entschlossen ab, weil sie von<br />
Rahels Verhalten und der darauf folgenden Reaktion ihres Gemahls peinlich berührt ist:<br />
RAHEL Hier will ich bleiben und will leichter atmen.<br />
Die Wange an des Königs Knie gelegt:<br />
Hier ist die Sicherheit, hier ruht sich’s gut.<br />
KÖNIGIN Wollt ihr [sic] nicht gehn?<br />
KÖNIG Ihr seht, ich bin gefangen!<br />
202 Hier zeigt sich auch eine Parallele zwischen Rahel und Hero: In beiden Fällen ermöglicht Grillparzer die<br />
Herstellung eines Kausalzusammenhanges zwischen den Kindheitserlebnissen und den Charakterzügen seiner<br />
Frauenfiguren. Die zentrale Rolle nimmt dabei sowohl <strong>für</strong> Hero als auch <strong>für</strong> Rahel eine äußerst negativ gezeichnete<br />
Vaterfigur ein.<br />
203 Der traumatisierende Verlust der Mutter ist eine Parallele zwischen den „untypischen“ Männerfiguren Leander<br />
und Alphons.<br />
204 Politzer, Heinz: Franz Grillparzer oder das abgründige Biedermeier, S. 332.<br />
205 Ebd., S. 339.<br />
206 Janke, Pia: Gescheiterte Authentizität, S. 65.<br />
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