25.12.2013 Aufrufe

DIPLOMARBEIT - Institut für Germanistik - Universität Wien

DIPLOMARBEIT - Institut für Germanistik - Universität Wien

DIPLOMARBEIT - Institut für Germanistik - Universität Wien

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

chale Gesellschaftsordnung ist demnach nicht nur das verhängnisvolle Hindernis, sondern<br />

zugleich auch die Ursache <strong>für</strong> Heros Liebe zu Leander. Der Jüngling weckt und erfüllt Heros<br />

Bedürfnis nach mütterlicher Liebe, die ihr in Kindertagen zum Zweck patriarchalen Machterhalts<br />

entzogen wurde. Der Anblick des liebeskranken Leander, der sich während Heros Priesterweihe<br />

in sie verliebt hat, weckt ihren Mutterinstinkt. Hero stillt das Verlangen des Liebesdurstigen:<br />

„Hero ihm den Krug hinhaltend, aus dem er knieend trinkt: / So trink! und jeder<br />

Tropfen / Sei Trost, und all dies Naß bedeute Glück.“ (HKA, S. 49, V. 81-819). Diese Geste<br />

erinnert an die Interaktion zwischen einer Mutter und ihrem durstigen Kind.<br />

Leanders kindlich-trotzige Charakterzüge sind die zentrale Bedingung da<strong>für</strong>, dass sich<br />

Hero überhaupt in ihn verlieben kann: „Leander ist alles andere denn ein männlicher Held im<br />

Sinne einer überkommenen Heroik. Er besitzt Züge, die sonst den Frauen zugesprochen werden,<br />

[…] den Trübsinn, die Ängstlichkeit, die Schweigsamkeit […].“ 166 Als ihn die unerfüllte<br />

Liebe zu Hero quält, verfällt er in einen depressionsähnlichen Zustand und beginnt zu weinen.<br />

Leander unterscheidet sich somit grundlegend von jenen Männern, die das patriarchale Herrschaftssystem<br />

stützen: „Es sind genau diese quasi-femininen Merkmale im Sinne einer polaren<br />

Geschlechterkonzeption, die ihn <strong>für</strong> Hero so anziehend erscheinen lassen […].“ 167 So verfliegt<br />

Heros Misandrie nach dem ersten Zusammentreffen mit Leander: „Der Jüngere, der<br />

Braungelockte, Kleinre / Vielleicht gefiel er mir. – Vielleicht? – Je nun!“ (HKA, S. 48, V.<br />

1008-1009). Heros Zuneigung kann nur zu einem Mann erwachen, der keinerlei Eigenschaften<br />

eines dominanten Patriarchen mehr an sich hat. Mit Leander zeigt Grillparzer einen sensitiven,<br />

verletzlichen Mann. Damit stellt er das bürgerliche Männerbild und das Prinzip patriarchaler<br />

Machtausübung in Frage. Grillparzer lässt weitere Kritik an den bestehenden männlichen<br />

Herrschaftsverhältnissen anklingen: Hero stellt sich gegen das traditionelle Familienbild<br />

der Mutter und bricht bei der ersten Gelegenheit mit den patriarchal-religiösen Normen des<br />

Onkels. Nach dieser Übertretung, nach der Liebesnacht mit Leander, verspürt Hero keinerlei<br />

Schuldgefühle. Das verdeutlicht, wie wenig Hero an restriktiven gesellschaftlichen Werten<br />

gelegen ist:<br />

Höchst modern erscheint die Tatsache, dass er [Grillparzer, Anm.] dabei ganz auf die<br />

naheliegende Entfaltung eines moralischen Konflikts verzichtet hat. Er zeigt uns keine<br />

von Schuldgefühlen zerknirschte Heroine, die um die Verletzung des Jungfräulichkeitsgebots<br />

bekümmert wäre und sich in misogyn angehauchter Selbstquälerei oder<br />

diversen Opfervorstellungen erginge. 168<br />

166 Scheit, Gerhard: Franz Grillparzer, S. 63.<br />

167 Prutti, Brigitte: Letale Liebe und das Phantasma idealer Mütterlichkeit, S. 200.<br />

168 Ebd., S. 202.<br />

- 63 -

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!