DIPLOMARBEIT - Institut für Germanistik - Universität Wien
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Die Eltern vertreten „insgesamt die Überzeugungen einer bornierten kleinbürgerlichen Gesinnung,<br />
die als zeitkritische Replik auf vorherrschende Normen gelesen werden können: aus der<br />
antiken Verkleidung treten <strong>Wien</strong>er Bürger des Biedermeier mit ihren Lebens- und Moralauffassungen<br />
hervor.“ 160 In Heros Antwort auf die mütterlichen Wertvorstellungen schwingt<br />
demnach auch Grillparzers Kritik am Zeitgeist mit. Grillparzer lässt seine Heldin von einem<br />
alternativen Lebensentwurf träumen: Sie „versucht […] ihre ehemaligen Bezüge radikal zu<br />
kappen, um ihr Selbstsein zu bewahren“, da „Vater und Bruder aus eigener Machtvollkommenheit<br />
über Menschen und Verhältnisse“ verfügen. 161 In ihrem jugendlichen Idealismus ist<br />
Hero noch davon überzeugt, ein anderes, selbstbestimmtes Leben führen zu können. Politzer<br />
spricht in diesem Zusammenhang überspitzt von „Hero […], die bisweilen wie eine Suffragette<br />
klingt“ 162 . Die Ursache <strong>für</strong> den Konflikt zwischen Heros emanzipatorischen Ansprüchen<br />
und der Wirklichkeit liegt „in der repressiven Geschlechterordnung der modernen Kernfamilie,<br />
der sich die Heldin [des] Stückes mit ihrer Entscheidung <strong>für</strong> das jungfräuliche Priestertum<br />
entziehen will.“ 163<br />
Doch nicht nur die schlechten Erfahrungen mit Vater und Bruder haben Hero in ihrer<br />
Entscheidung <strong>für</strong> ein Leben als Priesterin bestärkt. Mindestens ebenso prägend wirkte die<br />
Absenz der Mutter – auch wenn sich Hero dieses Einflusses nicht bewusst ist. Denn die Kindheit<br />
auf Sestos lehrte Hero, dass sie auch ohne die enge Beziehung zu ihrer Mutter aufwachsen<br />
konnte. Somit glaubt Hero zu wissen, dass sie auch in ihrem weiteren Leben auf eine enge<br />
Liebesbeziehung verzichten könne. Diese Annahme entpuppt sich nach dem Zusammentreffen<br />
mit Leander allerdings als fataler Irrtum.<br />
Diese Abwesenheit der Mutter ist eine Konstante, die die Hero mit den anderen Frauenfiguren,<br />
die ebenfalls Gegenstand dieser Analyse sind, verbindet: Rahels Mutter ist tot, über<br />
den Verbleib von Mirzas (beziehungsweise Gülnares) Mutter ist nichts bekannt und Hero<br />
wird im Kindesalter von der Mutter getrennt. Wie groß der Einfluss dieser Tatsache <strong>für</strong> die<br />
Lebensgestaltung der Frauenfiguren ist, hat Brigitte Prutti anhand der Hero gezeigt. 164<br />
Heros Liebe zu Leander erwacht laut Prutti deshalb, weil dieser Fischerbursche <strong>für</strong> sie<br />
„eine Figuration der unbedingten mütterlichen Liebe [ist], die die Geborgenheit der frühkindlichen<br />
Mutter-Kind-Dyade und einen elementaren körperlichen Genuss verspricht, in dem<br />
Zärtlichkeit, Nahrung und das mütterliche Wort miteinander verschmelzen.“ 165 Die patriar-<br />
160 Bachmaier, Helmut: Kommentar zu Des Meeres und der Liebe Wellen. In: HKA, S. 600.<br />
161 Geißler, Rolf: Ein Dichter der letzten Dinge, S. 36.<br />
162 Politzer, Heinz: Franz Grillparzer oder das abgründige Biedermeier, S. 214.<br />
163 Prutti, Brigitte: Letale Liebe und das Phantasma idealer Mütterlichkeit, S. 183.<br />
164 Vgl. ebd., S. 180-203.<br />
165 Ebd., S. 182.<br />
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