Die Form der Paradoxie - Uboeschenstein.ch
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Das Namenlose und damit Unters<strong>ch</strong>iedslose, wie wir mit dem „Kalkül <strong>der</strong> Beoba<strong>ch</strong>tung“<br />
folgern können, das den Laws of <strong>Form</strong> in <strong>Form</strong> von <strong>ch</strong>inesi¬s<strong>ch</strong>en S<strong>ch</strong>riftzei<strong>ch</strong>en voran<br />
gestellt ist (siehe I. 1. „Vor dem Eintritt“, S. 32), <strong>der</strong> „Anfang von Himmel und Erde“, wird in<br />
<strong>der</strong> daoistis<strong>ch</strong>en Tradition mit Dao bezei<strong>ch</strong>net. Den Begriff Dao übersetzt die Literatur<br />
unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>: Weg, Sinn, universelles Prinzip, Weltgesetz, Gott, S<strong>ch</strong>icksal o<strong>der</strong> au<strong>ch</strong> das<br />
Sein. <strong>Die</strong>se Bezei<strong>ch</strong>nungen vermitteln eine vage Vorstellung davon, was mit Dao zum<br />
Ausdruck gebra<strong>ch</strong>t wird. Den <strong>ch</strong>inesis<strong>ch</strong>en Begriff ni<strong>ch</strong>t zu übersetzen – und au<strong>ch</strong> auf die<br />
Angabe von Übersetzungsvors<strong>ch</strong>lägen zu verzi<strong>ch</strong>ten –, ist wohl <strong>der</strong> angemessenste Weg;<br />
denn dann bes<strong>ch</strong>reibt man ni<strong>ch</strong>ts, gibt kein Bild, löst keine Vorstellung aus. So bliebe Dao<br />
eine „Worthülse“; man weiß ni<strong>ch</strong>t (genau), was gemeint ist. Und tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> ist au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>ts<br />
Festlegbares gemeint. Das Dao wird au<strong>ch</strong> „ungreifbar“ genannt und als unbestimmtes Wort<br />
erfüllt o<strong>der</strong> bestätigt es diese Bes<strong>ch</strong>reibung.<br />
Das heißt, dass das Dao ni<strong>ch</strong>t definiert werden kann. Es ist ohne Grenze, da es alle Grenzen<br />
<strong>der</strong> Festlegung übers<strong>ch</strong>reitet. O<strong>der</strong> paradox formuliert: Per Definitionem ist das Dao<br />
undefinierbar.<br />
Dementspre<strong>ch</strong>end beginnt das Dao De Jing:<br />
„sagbar das Dau do<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t das ewige Dau<br />
nennbar <strong>der</strong> name do<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t <strong>der</strong> ewige name<br />
namenlos des himmels, <strong>der</strong> erde beginn<br />
namhaft erst <strong>der</strong> zahllosen dinge urmutter<br />
darum: immer begehrlos und s<strong>ch</strong>aubar wird <strong>der</strong> dinge geheimnis<br />
immer begehrli<strong>ch</strong> und s<strong>ch</strong>aubar wird <strong>der</strong> dinge umrandung<br />
beide gemeinsam entsprungen dem einen<br />
sind sie nur an<strong>der</strong>s im namen<br />
gemeinsam gehören sie dem tiefen<br />
dort, wo am tiefsten das tiefe<br />
liegt aller geheimnisse pforte“ (LAUDSE: Abs<strong>ch</strong>nitt 1)<br />
Der Anfang von Himmel und Erde bes<strong>ch</strong>reibt das Entstehen <strong>der</strong> ersten Unters<strong>ch</strong>eidung, das<br />
„im“ empty space ges<strong>ch</strong>ieht. Das Namenlose (o<strong>der</strong> das „Ni<strong>ch</strong>tsein“ bei Ri<strong>ch</strong>ard Wilhelm) ist<br />
<strong>der</strong> Zustand, bevor etwas ges<strong>ch</strong>ieht, bevor Zeit und Raum zur Existenz gelangen, bevor die<br />
erste Unters<strong>ch</strong>ei¬dung getroffen wird; und ohne Unters<strong>ch</strong>eidung kann es we<strong>der</strong> Anzeige<br />
no<strong>ch</strong> Namen geben. Der empty space, die Leere o<strong>der</strong> das Ni<strong>ch</strong>tsein ist no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t einmal<br />
ni<strong>ch</strong>ts, no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t einmal leer. Es enthält keine Unters<strong>ch</strong>ei¬dung bzw. ist dur<strong>ch</strong> keine<br />
Unters<strong>ch</strong>eidung festlegbar, und von es zu spre<strong>ch</strong>en ist wie jede Aussage darüber<br />
irreführend, da es si<strong>ch</strong> je<strong>der</strong> Unter¬s<strong>ch</strong>eidung – au<strong>ch</strong> <strong>der</strong> von existent/ni<strong>ch</strong>t existent –<br />
entzieht.<br />
„dem seienden entsprangen alle dinge <strong>der</strong> welt<br />
das seiende – es entsprang dem ni<strong>ch</strong>tseienden.“ (LAUDSE: Abs<strong>ch</strong>nitt 40)<br />
Somit ist das Sein, das, was si<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> dem Anfang manifestiert und als unters<strong>ch</strong>ieden vom<br />
Ni<strong>ch</strong>ts wahrnehmbar wird, mit den unters<strong>ch</strong>iedenen Dingen identifizierbar, mit „allen Dingen<br />
<strong>der</strong> Welt“. Es ers<strong>ch</strong>eint als „Etwas“, das dur<strong>ch</strong> die Asymmetrie <strong>der</strong> Unters<strong>ch</strong>eidung, eben<br />
dur<strong>ch</strong> die Anzeige, als Einheit geformt ist.<br />
Ausgangspunkt ist also unauslotbare Unters<strong>ch</strong>iedslosigkeit o<strong>der</strong> Leere. Wir können nun<br />
fragen: Was ges<strong>ch</strong>ieht, wenn eine Unters<strong>ch</strong>eidung getroffen wird? Und wir sehen: Es<br />
entsteht ein Universum. Wenn man das systemtheoretis<strong>ch</strong> formulieren mö<strong>ch</strong>te: Wenn eine<br />
Unters<strong>ch</strong>eidung getrof¬fen wird, an <strong>der</strong> si<strong>ch</strong> weitere ans<strong>ch</strong>ließen, so dass fortlaufend<br />
beoba<strong>ch</strong>tet wird, entsteht eine System-Umwelt-Differenz. In und mit dieser Differenz wird<br />
(von jemandem) wahrgenommen, was wir Welt o<strong>der</strong> ein Universum nennen können.<br />
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