dr. med. robert g. jackson - Sapientia
dr. med. robert g. jackson - Sapientia
dr. med. robert g. jackson - Sapientia
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
genährt“, weniger „gut untergebracht“ sind als wir. Das mahnt zum Aufsehen.<br />
Wer da glaubt, es sei wichtig, sich „gut zu kleiden“, und dabei an dicke, schwere<br />
Kleidung denkt, findet auch keine Erklärung für die merkwürdige Erscheinung jener<br />
Indianer an der Küste des Stillen Ozeans, die ich manchmal barfuß in wässerigem,<br />
schmutzigem Schnee umherwaten sah, nur mit baumwollenen Hemden und<br />
zerschlissenen Hosen bekleidet oder auch bloß in einer Ärmelschürze als einziger<br />
Körperbedeckung, die aber in keiner Weise unter der Kälte zu leiden, noch sie<br />
überhaupt zu empfinden schienen. Die Indianer selbst aber hatten eine Erklärung.<br />
Einen Alten fragte ich, wie er es mache, um die Kälte so gut auszuhalten und<br />
anscheinend nicht einmal zu fühlen. Er antwortete: „Bei mir alles Gesicht.“ Das ist die<br />
Erklärung dieses Phänomens in einer Nußschale. Wir lernen daraus nicht nur, daß die<br />
wirklich normale Haut den Kontakt mit äußerer Kälte in jeder Form ertragen kann,<br />
sondern auch, daß eine solche natürliche Anregung für sie ein Bedürfnis und ein<br />
Genuß ist.<br />
So läßt sich auch begreifen, wie eine kleine Musikantentruppe von den Philippinen,<br />
die im Jahre 1904 eine Tournee in den Vereinigten Staaten machte, nachdem sie<br />
vorher an der Weltausstellung in St. Louis tätig gewesen war, eines Tages lächelnd<br />
durch die verschneiten Straßen von Philadelphia gewandert kam, ohne weitere<br />
Bekleidung als ihre Hosen; der klatschnasse Schnee <strong>dr</strong>ückte sich glucksend zwischen<br />
den Zehen hindurch, die Flocken lagen hell auf der nackten Haut und schmolzen dort;<br />
die Männer schienen die Kälte gar nicht zu beachten. Ich sah dieselben Männer später<br />
im Hörsaal, wo ich mithalf, am Beispiel ihrer Füße einer Gruppe von<br />
Orthopädiestudenten den vollkommenen Fuß zu demonstrieren, und hatte Gelegenheit,<br />
mit verschiedenen von ihnen zu sprechen. Sie erzählten mir, in ihrer Heimat hätten sie<br />
nie Schnee gesehen; aber sie empfanden die Kälte nicht, und ich konnte ihnen dies<br />
glauben, denn ihre Haut fühlte sich durchaus warm an. Ich ließ es mir angelegen sein,<br />
nachträglich zu erfahren, ob sie sich auf diesem Marsch durch den Schnee erkältet<br />
hätten; doch sie lachten über die Vermutung, daß sie sich hätten erkälten können.<br />
Diese Beobachtungen führen alle zu derselben Feststellung: daß die zivilisierten<br />
Menschen ihr normales Verhalten weitgehend verloren haben; es hat sich in ihnen die<br />
Vorstellung herausgebildet, das Endziel des Lebens sei nicht körperliche Ertüchtigung,<br />
sondern Bequemlichkeit und physisches Behagen. Man kann zwar nicht bestreiten, daß<br />
dies der Endzweck der Kultur ist, aber das Endziel des Lebens ist es keineswegs.<br />
Es gibt zwei Lebensauffassungen. Die eine zielt auf behagliches Wohlleben, die<br />
andere auf körperliche und seelische Tüchtigkeit, Lebendigkeit, Männlichkeit. Die<br />
Grundidee der ersten Auffassung läßt sich in dem Bild einer Schlange darstellen, die<br />
soeben eine Beute verschlungen hat und sich nun an einem sonnigen Plätzchen<br />
zusammenrollt, um ihr Verdauungsschläfchen zu halten. Die Grundidee der zweiten<br />
Auffassung symbolisiert der Jagdhund, der an der Leine zerrt, das Rennpferd, das<br />
ungeduldig wiehernd mit seinen Hufen scharrt. Der bequeme Mensch scheut sich<br />
davor, sich körperlichen Beschwerden auszusetzen, und trachtet daher, jede<br />
Anstrengung zu vermeiden und sein Dasein in einer weichen, trägen, schläfrigen<br />
Weise zu genießen. Der gesunde, tatenfreudige Mensch dagegen sucht Anstrengungen<br />
auf, setzt sich den Einwirkungen der Umwelt aus und trachtet so, die dem Körper<br />
innewohnende Verteidigungskraft durch Übung zu stärken, wie man es mit seinen<br />
Muskeln oder seinem Gedächtnis macht, wenn man sie zu entwickeln wünscht; das<br />
Endziel ist körperliche Tüchtigkeit, welche Lebenskraft und Widerstandsfähigkeit<br />
72