dr. med. robert g. jackson - Sapientia
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Nach der Untersuchung sagte ich, im Bemühen, die junge Frau zu beruhigen, unter<br />
anderem, sie brauche sich nicht zu sorgen; wenn sie die Nahrung des Kindes seiner<br />
Verdauungs und Aufnahmefähigkeit anpasse, so daß auch die Ausscheidung der<br />
Abfallstoffe regelmäßig vor sich gehen könne, und wenn dem Kinde die notwendige<br />
hygienische Sorgfalt zuteil werde, dann werde es wie Unkraut aufwachsen und<br />
gedeihen.<br />
Daraufhin schaute die junge Frau mich belustigt an und fragte mit einem<br />
spöttischen Blick auf meine armselige, zusammengefallene Gestalt: „Herr Doktor,<br />
wann hört dieses Prinzip auf, im Leben eines Menschen wirksam zu sein?“<br />
Selbstverständlich konnte ich ihr nicht antworten; ich wich daher mit ein paar<br />
nichtssagenden Worten aus. Damit war die Angelegenheit, soweit sie meine Klientin<br />
betraf, erledigt; sie hatte ihren kleinen Spaß auf Kosten meiner verfallenen, elenden<br />
Körperlichkeit gehabt. Aber für mich war die Sache noch nicht abgetan. Der Mutter<br />
gegenüber hatte ich eine Antwort umgangen; in meinem Innern konnte ich dem durch<br />
ihre Frage aufgeworfenen Problem jedoch nicht aus dem Wege gehen. Ich wurde es<br />
nicht los, so sehr ich mich auch bemühte, es mir aus dem Kopf zu schlagen. Den<br />
ganzen Abend dachte ich an nichts anderes mehr. Wann, in der Tat, wann hörte dieses<br />
Prinzip im Leben eines Menschen zu wirken auf? Eine eigentümliche Überlegung<br />
wurde in mir wach. Konnte es möglich sein, daß das Prinzip, welches ich meiner<br />
Klientin auseinandergesetzt hatte, auch für erwachsene Menschen galt — auch für<br />
mich selbst? Und daß ich die vielen Jahre meines Leidens nur seiner Nichtanwendung<br />
zu verdanken hatte? War es dankbar, daß ich die Wunderwirkungen der Natur noch<br />
nicht genügend kannte? Lag es überhaupt in der Absicht der Natur, den Menschen mit<br />
Leiden und Krankheit heimzusuchen? Wenn im zarten Säuglingsalter der menschliche<br />
Körper durch bloße Anpassung der Nahrung an seine Aufnahme-, Verdauungs- und<br />
Ausscheidungsfähigkeit sowie durch vernünftige Sorgfalt und Hygiene immer gesund<br />
erhalten werden kann — wann begann dann der Lebensabschnitt, in dem diese Regel<br />
versagte? Und warum versagte sie auf einmal? Sonderbar, daß die Frage sich mir nie<br />
zuvor gestellt hatte. Jedenfalls mußte ich die Antwort darauf finden; sonst würde ich<br />
nicht einschlafen können.<br />
In der Hauptsache gingen meine Gedanken wie gewöhnlich im Kreis; aber von Zeit<br />
zu Zeit wagten sie sich doch aus der konventionellen, ewig gleichen Linie in eine neue<br />
Richtung und spähten irgendeinen unbekannten Weg entlang, der bisher — da ich als<br />
Arzt gewohnt war, die Pfade der Autoritäten zu wandeln und nicht nach rechts noch<br />
nach links zu blicken — von mir gar nicht beachtet worden war. Genau so ergeht es<br />
den meisten meiner Berufskollegen noch heute; neue Gedanken bleiben ihnen<br />
verschlossen bis irgendeine Autorität sie anerkannt und bestätigt hat.<br />
Während jener Nacht überlegte ich hin und her. Stets kehrten dabei die Worte<br />
wieder, die ich der jungen Frau zum Troste gesagt hatte: „Sorgen Sie dafür, daß die<br />
Nahrung Ihres Kindes seiner Fähigkeit zu verdauen und auszuscheiden entspricht;<br />
lassen Sie ihm die nötige hygienische Sorgfalt zuteil werden, und es wird wie Unkraut<br />
wachsen und gedeihen.“ Darauf folgte dann stets sogleich die Frage der jungen Frau:<br />
„Wann hört dieses Prinzip im Leben des einzelnen Menschen zu wirken auf?“ Diese<br />
beiden Sätze wurden das „Sesam, öffne dich“ zu meiner Errettung. Immer wieder<br />
funkelten mich die schwarzen, mutwilligen Augen meiner Klientin an und prüften<br />
meine armselige Gestalt von Kopf bis Fuß; und nun begann ich mit einem Male mich<br />
dieser Gestalt zu schämen, die zuvor Gegenstand meines tiefsten Erbarmens gewesen<br />
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