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Erinnerungen an Kindheit, Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen

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Lebenserinnerungen H<strong>an</strong>s-Siegfried Marks, Albrecht Dürer Str. 18, 06217 Merseburg, Tel. 03461-212739<br />

Der Sommer 1945 verging ohne weitere Höhepunkte. Eine Veränderung gab es jedoch. Eines Tages<br />

erschien wieder einmal die alte Frau Steinert vom früheren Nachbargr<strong>und</strong>stück. Sie hielt immer<br />

einen lockeren Kontakt zu uns <strong>und</strong> wusste auch meist etwas Neues zu berichten. Da sie früher<br />

die Butter von den Bauern aufgekauft <strong>und</strong> auf dem Markt in L<strong>an</strong>dsberg verkauft hatte, k<strong>an</strong>nte sie<br />

jeden im weiten Umkreis. Bei diesem Besuch legte sie fest, dass sie jetzt bei uns bleiben <strong>und</strong> in<br />

welchem Bett sie schlafen werde. Wir konnten das Bett tatsächlich freimachen, das hatte sie vermutlich<br />

bei ihren Besuchen zuvor schon erspäht. Sie wollte bei uns nichts zu Essen haben, den<br />

g<strong>an</strong>zen Tag unterwegs <strong>und</strong> tatsächlich nur Schlafgast sein. Da sie gr<strong>und</strong>sätzlich nur plattdeutsch<br />

sprach, hörte sich das so <strong>an</strong>: „Jetz bliew eck hier bie ju. Eck well oak nuscht nich to ähte. Eck benn<br />

am Dach wo<strong>an</strong>ners <strong>und</strong> komm nur tomm schloape her.“ Und dabei blieb es. Sie gab sich Mühe<br />

sich <strong>an</strong>zupassen, sie watschelte früh davon <strong>und</strong> kam abends wieder.<br />

Werner hat sie m<strong>an</strong>chmal ein wenig gehänselt. Wir lebten mit unzählbar vielen Mäusen, die überall<br />

waren. Wenn es im Zimmer ruhig war, krochen sie als Schlafgäste in die Strohsäcke. Das war ein<br />

un<strong>an</strong>genehmes Knistern <strong>und</strong> Knabbern! Sie ließen sich aber auch schnell verscheuchen. Und<br />

wenn Werner im Nebenbett früh munter war, spielte er im Strohsack von Frau Steinert „M<strong>aus</strong>“ <strong>und</strong><br />

schon kam die Reaktion: „Schon wedder de Muhs!“<br />

Frau Steinert blieb bei uns bis zu unserer Ausreise <strong>aus</strong> <strong>Ostpreußen</strong>, sie kam mit ins Quar<strong>an</strong>tänelager<br />

Torgau <strong>und</strong> zu unserem nächsten Wohnort in der Nähe von Merseburg. Da ihren Kindern die<br />

<strong>Flucht</strong> vor der Roten Armee geglückt war <strong>und</strong> sie in Schleswig-Holstein sesshaft wurden, zog sie<br />

bald dorthin <strong>und</strong> hielt noch l<strong>an</strong>ge Briefkontakt mit uns.<br />

Der Sommer ging seinem Ende zu <strong>und</strong> wir mussten dar<strong>an</strong> denken, das Getreide <strong>aus</strong>zudreschen.<br />

Das war auch erforderlich, da die Mäusepopulation zu einer solchen Plage wurde, dass sie das<br />

eingelagerte Getreide zusehends als gedeckten Tisch betrachtete. Gedroschen wurde mit dem<br />

Dreschflegel. Ein Dreschflegel ist ein Klöppel, der <strong>an</strong> einem Stiel gelenkig <strong>und</strong> drehbar befestigt ist.<br />

So ein Klöppel wog einige Kilo. Unser Getreidedrusch zog sich bis weit in den Winter hinein, zumal<br />

wir nur das Tageslicht nutzen konnten. Gedroschen haben nur Opa Thieler <strong>und</strong> ich. Dafür wurden<br />

die Getreidegarben geöffnet <strong>und</strong> auf den Scheunenboden, die Tenne, in zwei Reihen mit der Ährenseite<br />

aufein<strong>an</strong>der gelegt. Mit dem Dreschflegel wurde so l<strong>an</strong>ge im Zweiertakt nach einem festen<br />

System auf die Ähren gehauen, bis die Ähren leer waren. Zwischendurch wurde die gesamte Lage<br />

noch einmal gewendet. D<strong>an</strong>n wurde das Stroh <strong>aus</strong>geschüttelt <strong>und</strong> die Körner von der Spreu in der<br />

„Putzmühle“ getrennt. So eine Putzmühle ist eine Art großer Holzkasten mit Sieb <strong>und</strong> Flügelrad.<br />

Die Siebe sind der Korngröße <strong>an</strong>gepasst <strong>und</strong> <strong>aus</strong>wechselbar. Angetrieben wird die Mühle mittels<br />

H<strong>an</strong>dkurbel <strong>und</strong> Muskelkraft. Die Siebe werden dabei gerüttelt <strong>und</strong> das Flügelrad erzeugt einen<br />

Luftstrom, der die Spreu <strong>und</strong> <strong>an</strong>dere Verunreinigungen wegbläst. M<strong>an</strong> musste allerdings ein bestimmtes<br />

Tempo finden, damit der Luftzug tatsächlich nur die Spreu <strong>und</strong> nicht auch die Körner<br />

wegblies.<br />

Obwohl beide Tätigkeiten über den g<strong>an</strong>zen Tag ohne größere P<strong>aus</strong>e körperlich <strong>an</strong>strengend waren,<br />

gewöhnte m<strong>an</strong> sich dar<strong>an</strong>. Einen positiven Aspekt gab es auch: Meine Muskeln entwickelten<br />

sich wie bei einem durchtrainierten Boxer. Gelegentlich kam Mutter kurzzeitig dazu. Im Dreiertakt<br />

hörte sich das Dreschen richtig melodisch <strong>an</strong> <strong>und</strong> es gab nie eine Hakelei, obwohl alle drei auf die<br />

gleiche Stelle schlugen. Einen Teil des <strong>aus</strong>gedroschenen Getreides versteckten wir in 20-Liter-<br />

Milchk<strong>an</strong>nen tief im Stroh, der <strong>an</strong>dere Teil war bei Familie Renkewitz, den Polen in der Nachbarschaft,<br />

deponiert.<br />

Das Mahlen des Getreides zu Mehl habe ich bereits beschrieben. Doch wie wurde <strong>aus</strong> dem Mehl<br />

das Brot, unsere Hauptnahrung? Zum Brotbacken verwendeten wir einen bestimmten Anteil Mehl<br />

<strong>und</strong> ergänzten den Teig mit zermahlenen Körnern mittels Fleischwolf. Dazu wurde der Roggen in<br />

heißem bis kochendem Wasser aufgequollen <strong>und</strong> d<strong>an</strong>n ohne größeren Kraftaufw<strong>an</strong>d durch den<br />

Wolf gedreht. Im Sommer wurde im richtigen Backofen in der Küche gebacken, im Winter nutzten<br />

wir den täglich geheizten Kachelofen. Der Unterschied war allerdings, dass im Sommer immer<br />

mehrere Brote gebacken wurden, im Winter jeweils nur eins. Der Kachelofen hatte nur einen begrenzten<br />

Raum.<br />

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