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Erinnerungen an Kindheit, Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen

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Lebenserinnerungen H<strong>an</strong>s-Siegfried Marks, Albrecht Dürer Str. 18, 06217 Merseburg, Tel. 03461-212739<br />

stattbereiche lagen darunter. Bei diesen monatlichen Abrechnungen kamen wir auf einen Bruttolohn<br />

von etwa 420 Mark. Das war schon eine gute Entlohnung unter den H<strong>an</strong>dwerksberufen. Erschwerniszuschläge<br />

waren bereits einbezogen.<br />

Die Zeitvorgaben errechnete der Kalkulator, jetzt sozialistisch neu: der Normierer. Zum Teil wurden<br />

solche Zeiten direkt mit der Stoppuhr sek<strong>und</strong>engenau ermittelt, eigentlich ein „menschenverachtender“<br />

Vorg<strong>an</strong>g. Und so war auch die Stellung des Normierers umstritten. Von einer Seite kam<br />

immer Druck: Er sollte einerseits die Zeiten verkürzen, <strong>an</strong>dererseits musste er aber auch den Kollegen<br />

in die Augen sehen können.<br />

Eines Tages kam mein Betriebsleiter mit folgendem Anliegen zu mir: Bei den Normierern gab es<br />

einen längeren Ausfall eines Mitarbeiters. Er wollte mich für eine Überbrückungszeit für diese Aufgabe<br />

gewinnen. Ich lehnte mit der Begründung ab, dass ich kein Schreibtischarbeiter werden wolle<br />

<strong>und</strong> wenn ich erst einmal <strong>an</strong> einem Schreibtisch säße, befürchtete ich, nicht wieder davon wegzukommen.<br />

Mir war vor allem bewusst, dass ich auf den Verdienst meiner unmittelbaren Arbeitskollegen<br />

Einfluss nehmen würde was ich mir mit reichlich 21 Jahren nicht unbedingt zumuten wollte.<br />

Meine Bedenken, am Schreibtisch zu bleiben, entkräftete er mit den Worten: „Wir können die Zeit<br />

schriftlich vereinbaren <strong>und</strong> auf den Tag genau können Sie in Ihr Arbeitskollektiv zurück.“ Der Betriebsleiter,<br />

ein älterer lebenserfahrener Ingenieur, der sich in jungen Jahren sein Studium selbst<br />

erarbeitet hatte, überzeugte mich d<strong>an</strong>n letztlich mit folgenden Worten: „Als junger Mensch sollte<br />

m<strong>an</strong> alle Möglichkeiten nutzen, um sich weiterzubilden. Ich habe das in meinem Leben auch so<br />

gemacht <strong>und</strong> ich habe das nie bereut. Später werden Sie das auch so sehen!“<br />

Nach einem Kurzlehrg<strong>an</strong>g erwarb ich die Gr<strong>und</strong>kenntnisse des Normierens <strong>und</strong> wurde d<strong>an</strong>n auf<br />

meine Kollegen losgelassen. Es gab keine größeren Probleme, denn sie wussten ja, dass ich jedem<br />

das Werkzeug <strong>aus</strong> der H<strong>an</strong>d nehmen <strong>und</strong> die Tätigkeit nach meiner Vorgabezeit verrichten<br />

könnte. In diese Phase, in der ich zeitlich befristet als Normierer tätig war, fiel das Ereignis des 17.<br />

Juni 1953. Unter den Normierern gab es etliche, die prinzipiell versucht hatten, die Zeiten zu drücken,<br />

dies auch bei „<strong>aus</strong>geprägter Knochenarbeit“. Es gab ständig Ausein<strong>an</strong>dersetzungen, Nominierer<br />

waren verhasst. Während der Massenproteste kam es auch bei uns im Betrieb fast dazu,<br />

dass m<strong>an</strong> einzelne Nominierer <strong>aus</strong> dem Zimmer holen <strong>und</strong> lynchen wollte. Diese hatten auch<br />

sichtbar Angst. D<strong>an</strong>k einiger Besonnener kam es nicht dazu.<br />

Nun einige Bemerkungen zum 17. Juni 1953. Die Ereignisse, die ihren Anf<strong>an</strong>g in Berlin nahmen,<br />

entwickelten sich zu einem wahren Volksaufst<strong>an</strong>d in der DDR. Neben berechtigter Empörung gab<br />

es aber auch unüberlegtes Verhalten <strong>aus</strong> dem Affekt her<strong>aus</strong>. Für die Staatsführung der DDR war<br />

dies d<strong>an</strong>n das Argument, es sei eine vom Westen gesteuerte Aktion. Zu den Fakten: Von der<br />

Staatsmacht wurde unvermittelt entschieden, die Normen für die Arbeitsleistungen erhöhen zu lassen.<br />

Ich glaube es beg<strong>an</strong>n in den Baugewerken. Damit verb<strong>und</strong>en war faktisch die Absenkung der<br />

Einkommen. Das wollten sich die Arbeiter nicht gefallen lassen. Sie ginge auf die Straße <strong>und</strong> es<br />

entwickelten sich in Kettenreaktionen Protestbewegungen im g<strong>an</strong>zen L<strong>an</strong>d. Die Regierung nahm<br />

zwar ihre Entscheidung umgehend zurück, aber wenn eine Lawine ins Rollen gekommen ist, lässt<br />

sie sich nur schwer aufhalten. Aufgehalten wurde sie d<strong>an</strong>n von den Sowjets mit ihren P<strong>an</strong>zern.<br />

Ich möchte die Situation <strong>aus</strong> eigenem Erleben schildern, wie sie sich im Bunawerk bzw. im Raum<br />

Merseburg/Halle entwickelt hatte: Im Werk ging die Produktion weiter, aber in der Mehrzahl der<br />

Werkstätten legten die Werktätigen ihre Arbeit nieder. Die Massen formierten sich zu einem großen<br />

Zug, marschierten nach Merseburg zum Volkspolizei-Kreisamt, öffneten die Tore des dortigen<br />

Untersuchungsgefängnisses <strong>und</strong> ließen alle frei. Es wurde kein Unterschied zwischen kriminellen<br />

<strong>und</strong> politischen Häftlingen gemacht. Das Wachpersonal schritt vernünftigerweise nicht ein <strong>und</strong> überließ<br />

die Situation dem Selbstlauf.<br />

Ähnliches geschah in Halle, wo m<strong>an</strong> die Tore des „Roten Ochsen“, ein relativ großes Gefängnis,<br />

öffnete. Hier saßen vorwiegend politische Gef<strong>an</strong>gene ein, auch solche, die in der Nazizeit nachweisbar<br />

Verbrechen beg<strong>an</strong>gen hatten. Diese wurden gleich aktiv <strong>und</strong> wollten das Regime stürzen.<br />

Sie schadeten dem eigentliche Anliegen der Protestbewegungen erheblich <strong>und</strong> trugen dazu bei,<br />

dass die Sowjets Streikkomitees mit ehrlich gemeinten Anliegen ohne Ausnahmen verhafteten.<br />

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