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Erinnerungen an Kindheit, Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen

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fahrlose Baumfällen, was ich im späteren Leben bzw. bis heute nutzen konnte. Zu diesem Zeitpunkt<br />

war ich noch nicht 15 Jahre alt, aber in dieser Tätigkeit eine vollwertige Arbeitskraft.<br />

Werners Daumen beg<strong>an</strong>n sehr l<strong>an</strong>gsam zu heilen, das zog sich bis 1947 hin, als wir nach der Aussiedlung<br />

schon in Deutschl<strong>an</strong>d waren. Bei dem Unfall war noch ein Teil des Nagelbettes unbeschädigt<br />

geblieben. Eine Ecke ließ sogar noch einen Nagel wachsen, verkleinert <strong>und</strong> verkrüppelt,<br />

aber der Daumen hat einen schützenden Abschluss.<br />

Die Umsiedlung nach Deutschl<strong>an</strong>d<br />

Es ging in den Winter 1946. Das Thema einer baldigen Umsiedlung nach Deutschl<strong>an</strong>d wurde immer<br />

aktueller <strong>und</strong> im Dezember sollte es d<strong>an</strong>n tatsächlich passieren. Die Aktion lief l<strong>an</strong>gfristig <strong>und</strong><br />

gut org<strong>an</strong>isiert ab. Für die Zusammenstellung des Tr<strong>an</strong>sports, für die Fahrt zum Sammelpunkt<br />

Heilsberg, für die Gr<strong>und</strong>versorgung während der Zugfahrt <strong>und</strong> die Sicherung des Tr<strong>an</strong>sports bis<br />

zur deutschen Grenze waren die polnischen Behörden ver<strong>an</strong>twortlich. Trotzdem hatten die Sowjets<br />

die Kontrollgewalt, die Polen waren rechenschaftspflichtig <strong>und</strong> vor unserer Übergabe <strong>an</strong> die deutsche<br />

Seite haben sie nach Augenschein gezählt <strong>und</strong> die polnische Miliz st<strong>an</strong>d stramm.<br />

Das G<strong>an</strong>ze lief wie folgt ab: Es war noch die erste Dezemberhälfte. Die umliegenden sesshaft gewordenen<br />

Polen mussten uns mit ihren Pferdewagen nach Heilsberg bringen. Ich muss sicher<br />

nicht besonders hervorheben, dass die Sawkos, alles, was wir nicht als H<strong>an</strong>dgepäck mitnehmen<br />

konnten, noch schnell zu sich nach H<strong>aus</strong>e brachten, einschließlich der Möbel. Für sie war es ein<br />

ungeahnter Reichtum. Natürlich waren auch sie es, die uns nach Heilsberg brachten.<br />

Der Konvoi, es waren viele Gesp<strong>an</strong>ne, setzte sich d<strong>an</strong>n geschlossen in Bewegung. Der erste Wagen<br />

brach bereits nach reichlich einem gefahrenen Kilometer zusammen. Die Betroffenen wurden<br />

d<strong>an</strong>n mit ihrem Gepäck auf <strong>an</strong>dere Wagen verteilt <strong>und</strong> es ging weiter. Als Sammelpunkt für den<br />

gesamten Zugtr<strong>an</strong>sport war die frühere Garnison in Heilsberg vorbereitet worden. Wir waren in einer<br />

Reithalle untergebracht, es war sogar Stroh vorh<strong>an</strong>den. Mittendrin st<strong>an</strong>d ein großer K<strong>an</strong>onenofen,<br />

besser gesagt, es war ein großes Fass, das m<strong>an</strong> zum Ofen umfunktioniert hatte. Das Sammeln<br />

der Deutsche ging über mehrere Tage <strong>und</strong> umfasste ein weites Gebiet. In dieser Zeit wurden<br />

wir von der Miliz bewacht, hatten aber unsere Bewegungsfreiheiten <strong>und</strong> erk<strong>und</strong>eten sogar den Kasernenkomplex,<br />

der vorwiegend für Kavallerieeinheiten vorgesehen war. Als sich der Tag des Verladens<br />

näherte, der uns vorher nicht bek<strong>an</strong>nt war, hatte m<strong>an</strong> sogar die Großbäckerei im Kasernenobjekt<br />

in Betrieb genommen <strong>und</strong> es wurde eine Unmenge Brot gebacken. Ich erinnere mich deshalb<br />

so genau, weil ich zu einer Gruppe gehörte, die d<strong>an</strong>n mit einem Fahrzeug das Brot von dort<br />

abholte.<br />

Heilsberg hatte noch einen intakten Bahn<strong>an</strong>schluss. Ab hier in Richtung Süden hatten die Sowjets<br />

die Gleise nicht mehr aufgenommen bzw. einige Gleise liegengelassen. Für unseren Tr<strong>an</strong>sport<br />

hatte m<strong>an</strong> eine l<strong>an</strong>ge Zugeinheit <strong>aus</strong> Güterwagen, allgemein Viehwagen gen<strong>an</strong>nt, bereitgestellt. In<br />

den einzelnen Waggons bef<strong>an</strong>den sich sogar eine mäßige Schicht Stroh <strong>und</strong> ein kleiner K<strong>an</strong>onenofen.<br />

Einige große Klötze Holz lagen auch d<strong>an</strong>eben. Als es soweit war, bekamen wir eine Art<br />

Tr<strong>an</strong>sportverpflegung, mengenmäßig sehr eingeschränkt <strong>und</strong> mit Sicherheit nicht für die Zeit der<br />

Reise <strong>aus</strong>reichend. Aber unter diesen Umständen musste der gute Wille bereits <strong>an</strong>erk<strong>an</strong>nt werden,<br />

es hätte auch <strong>an</strong>ders kommen können.<br />

Am <strong>an</strong>dern Tag sollte es losgehen. Früh bei Tageslicht beg<strong>an</strong>n der Aufbruch. Neben uns lag ein<br />

betagtes Ehepaar <strong>aus</strong> Hoofe, wir k<strong>an</strong>nten uns von früheren gegenseitigen Besuchen. Als wir aufst<strong>an</strong>den<br />

<strong>und</strong> unser Gepäck aufnahmen, brach der alte Herr zusammen. Er war tot! In kürzester<br />

Zeit, wir waren noch in der Halle, wurde er weggebracht. Jem<strong>an</strong>d sagte noch zu mir: „Ziehe ihm<br />

die Schuhe <strong>aus</strong> <strong>und</strong> nimm sie dir mit. Wenn du es nicht tust, tun es <strong>an</strong>dere!“ Und so kam ich zu einem<br />

Paar Schuhe. Aus meinen war ich ohnehin fast her<strong>aus</strong>gewachsen <strong>und</strong> sie drückten bei fast<br />

jedem Schritt.<br />

Was mag in der alten Frau vorgeg<strong>an</strong>gen sein. Innerhalb von wenigen Minuten der Tod des M<strong>an</strong>nes,<br />

der Aufbruch in eine unbek<strong>an</strong>nte Zukunft, allein mit dem Gepäck <strong>und</strong> plötzlich einsam. Wo er<br />

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