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Erinnerungen an Kindheit, Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen

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nach Gehör richtig aufgehängt wird. Dieses Gehör fehlte vielen, auch dem schon erwähnten Milizoffizier.<br />

Er kam wieder einmal auf der Suche nach Beute zu uns. Ich hatte gerade einen Wecker<br />

zusammengebastelt, der jetzt eine Pendeluhr in einem selbst gefertigten Holzgehäuse war. Das<br />

war natürlich seine. Die Bek<strong>an</strong>nte, die dort schneiderte, erzählte, dass er es nach dem ersten Aufziehen<br />

der Uhr nicht schaffte, sie wieder in G<strong>an</strong>g zu bringen. Für ihn war sie wertlos. Vielleicht hatte<br />

er vor seinem diesem Beuteg<strong>an</strong>g nicht genügend gebetet! Es waren nicht wenige Uhren dieser<br />

Art, die ich <strong>an</strong>deren Deutschen schenkte. Einen ordentlichen Wecker brachte ich aber auch noch<br />

zusammen, den wir mit ein bisschen Glück bei der Ausreise nach Deutschl<strong>an</strong>d retten konnten.<br />

In den ersten Sommermonaten 1945 baute ich auch zwei Fahrräder zusammen. Vorher hatte ich<br />

mit Rädern kaum etwas zu tun, aber es war nicht schwer, die technischen Zusammenhänge zu erkennen.<br />

Da auf fast allen Gr<strong>und</strong>stücken Fahrräder vorh<strong>an</strong>den, aber der Zerstörungswut der Russen<br />

zum Opfer gefallen waren, gab es in der ersten Zeit genügend Ausg<strong>an</strong>gsmaterial. Das erste<br />

Fahrrad nahm ein Russe bei einer Beutetour mit. Er konnte vermutlich Rad fahren, er versuchte<br />

zumindest aufzusteigen. Bald darauf bastelte ich erneut ein Fahrrad zusammen. Da war es schon<br />

schwieriger brauchbare Teile zu finden. Doch wir bekamen wieder Besuch. Ein Russe war mit einem<br />

P<strong>an</strong>jewagen unterwegs <strong>und</strong> senste unmittelbar in Gr<strong>und</strong>stücksnähe Grünfutter für sein Pferd<br />

ab. Für ihn war es selbstverständlich, dass er sich nach etwas Brauchbarem bei uns umsah. Er<br />

war aber nicht bösartig oder aufdringlich. Als er das Fahrrad entdeckte, hatte sich sein „Besuch“<br />

gelohnt. Er betrachtete das Gefährt, schob es zu seinem Wagen, legte es behutsam auf sein Grünfutter<br />

<strong>und</strong> verschw<strong>an</strong>d. So schnell war auch dieses Fahrrad weg. Da solche Dinge zum Alltag gehörten,<br />

gab es auch kein Nachtrauern. Wir hatten ja gelernt stillzuhalten, das war eine Überlebensnotwenigkeit.<br />

Mit den <strong>an</strong>gesiedelten Polen lebten wir friedlich zusammen. Nicht weit von uns hatte sich eine Familie<br />

Renkewitz niedergelassen, die <strong>aus</strong> Wilna stammte. Auf dem bis dahin unbewohnten Gr<strong>und</strong>stück<br />

waren die Gebäude unbeschädigt. Allerdings war unmittelbar nach den Kampfh<strong>an</strong>dlungen<br />

ein Pferd in den nicht abgedeckten Brunnen hineingestürzt. Also gab es kein Trinkwasser. M<strong>an</strong><br />

holte sich Wasser <strong>aus</strong> einem nahe gelegenen Teich. Es war zwar g<strong>an</strong>z klar, aber eine Dauerlösung<br />

konnte das nicht bleiben. P<strong>an</strong> Renkewitz war früher Arbeiter in einer Papierfabrik. Er zeigte<br />

mir mal stolz eine Papierrolle, <strong>an</strong> deren Herstellung er vermutlich beteiligt war. Für ihn war es ein<br />

Stück Erinnerung <strong>an</strong> die Heimat. Er sprach nur wenig Deutsch <strong>und</strong> war überhaupt nicht sprachbegabt.<br />

P<strong>an</strong>i Renkewitz, sehr füllig mit einem Riesenbusen, war nie die schnellste, aber immer beschäftigt<br />

<strong>und</strong> im Gegensatz zu ihrem M<strong>an</strong>n <strong>aus</strong>gesprochen sprachbegabt. Es gab noch eine etwa<br />

18-jährige Tochter, eine fleißige „Bohnenst<strong>an</strong>ge“ <strong>und</strong> Miroslaw, etwa 9 Jahre alt. Miros war ein<br />

<strong>aus</strong>geprägt <strong>an</strong>hänglicher Junge. Als im Spätsommer 1945 der Schulbetrieb in Hoofe aufgenommen<br />

wurde <strong>und</strong> Miros Schulbücher erhielt, musste ich ihm immer Geschichten <strong>aus</strong> dem Lesebuch<br />

vorlesen. Wenn ich vieles auch nicht verst<strong>an</strong>d, so gut war mein Polnisch noch nicht, so lernte ich<br />

aber das polnische Alphabet richtig zu lesen <strong>und</strong> Miros korrigierte mich bei der Aussprache.<br />

Da diese Familie <strong>aus</strong> der Stadt kam <strong>und</strong> mit L<strong>an</strong>dwirtschaft nie etwas zu tun hatte, gab es erhebliche<br />

Anlaufprobleme. Sie ließen sich kaum von den eigenen L<strong>an</strong>dsleuten beraten, sondern fragten<br />

wiederholt mich, doch ich hatte auch nur begrenzte Kenntnisse von Ackerbau <strong>und</strong> Viehwirtschaft.<br />

Eines Tages baten sie mich, alles auf dem Gr<strong>und</strong>stück mit in Ordnung zu bringen. Das beg<strong>an</strong>n mit<br />

dem Ausmisten der Ställe <strong>und</strong> setzte sich mit <strong>an</strong>deren Arbeiten fort. So hatte ich für einige Zeit<br />

meine gesicherte Versorgung. Sie hatten selbst nicht viel, meist war das Essen vegetarisch. Zu<br />

Beginn wurde eine große Tonschüssel mit Suppe auf den Tisch gestellt, jeder hatte einen Holzlöffel<br />

<strong>und</strong> alle löffelten ohne Hakelei bis die Schüssel leer war. Nach einer gewissen Zeit gab es eine<br />

neue Essvari<strong>an</strong>te. Es gab mehrere kleine Schüsseln, jetzt wurde zu zweit gelöffelt. Ich vermutete,<br />

dass die Familie tatsächlich nur wenig Besitz mitbringen konnte. Sie kamen ohne Pferd <strong>und</strong> Wagen,<br />

mit wenig Gepäck. Doch plötzlich war ein ungeahnter Qualitätssprung in der Esskultur möglich.<br />

Jeder hatte seinen eigenen Teller, richtigen Löffel <strong>und</strong> auf dem Tisch st<strong>an</strong>den verschiedene<br />

Schüsseln. Woher auf einmal dieser Reichtum? Nachdem wir die Stallungen <strong>aus</strong>gemistet <strong>und</strong> richtig<br />

gereinigt hatten, entdeckte P<strong>an</strong> Renkewitz in der Futterkammer im Stall eine Bodenklappe, darunter<br />

war eine Treppe, die in eine Art Futterkeller führte. Dort hatten die deutschen Gr<strong>und</strong>stücksbesitzer,<br />

eine Familie Scheffler, einen Teil ihres Geschirrs vor den Russen versteckt, als sie die<br />

<strong>Flucht</strong> <strong>an</strong>traten. Wie alle <strong>an</strong>deren hofften auch sie wieder zurückzukommen.<br />

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