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Erinnerungen an Kindheit, Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen

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Hals der Grete ließ sie von ihrem Pl<strong>an</strong>schen ab, setzte sich in Bewegung <strong>und</strong> zu meinem Glück in<br />

Richtung Ufer. Auf der Straße <strong>an</strong>gekommen, entschied sie selbst, wie es weiter ging. Natürlich<br />

Richtung Stall. Sie trabte los, ich rutschte machtlos von einer Seite auf die <strong>an</strong>dere <strong>und</strong> hielt mich<br />

kräftig <strong>an</strong> der Mähne fest. Auf dem halben Weg in Richtung Gehöft waren mehrere halbwüchsige<br />

Jungs auf der Straße, die uns in guter Absicht aufhalten wollten. Die Grete bäumte sich auf <strong>und</strong><br />

nun ging’s im Galopp weiter in Richtung Stall. Dort <strong>an</strong>gekommen ging’s weiter in ihre Koje. Ich<br />

musste mich klein machen, um nicht am Türsturz hängen zu bleiben. Vom Pferd kletterte ich über<br />

die W<strong>an</strong>d der Koje, ich verriegelte die Tür <strong>und</strong> blieb vorerst Luft holend im Stall. Ich war gerettet!<br />

Als ich mich von diesem Abenteuer erholt hatte, ging ich auf den Hof. Da st<strong>an</strong>d meine Kusine Ella,<br />

lachte <strong>und</strong> fragte was passiert sei; die Pferde sollten doch auf der Weide bleiben. Bald darauf erschien<br />

Gerhard als stolzer Reiter <strong>und</strong> war sicher <strong>an</strong>get<strong>an</strong> von seinem Erfolg. D<strong>an</strong>n entschied meine<br />

Kusine doch die Pferde im Stall zu lassen. Auf der abgelegenen Weide ist es jetzt nachts unsicher<br />

geworden, meinte sie. Es ist vielleicht besser so!<br />

Eine Anmerkung <strong>an</strong> dieser Stelle. Von unserer bäuerlichen Verw<strong>an</strong>dtschaft waren es die einzigen,<br />

die es geschafft haben, Anf<strong>an</strong>g 1945 mit einem Treck <strong>aus</strong> <strong>Ostpreußen</strong> her<strong>aus</strong>zukommen, ehe die<br />

Rote Armee <strong>Ostpreußen</strong> vom Reich bei D<strong>an</strong>zig abgeschnitten hatte. Sie schafften es mit ihrem<br />

Wagen <strong>und</strong> den gen<strong>an</strong>nten Pferden bis nach Niedersachsen <strong>und</strong> haben noch einen Teil ihres<br />

H<strong>aus</strong>rates retten können.<br />

Wenn ich in Gerwen war, hielt ich mich zumindest gen<strong>aus</strong>o l<strong>an</strong>ge bei Onkel Rudolf <strong>und</strong> T<strong>an</strong>te Anna<br />

auf, wie bei Onkel Herrm<strong>an</strong>n <strong>und</strong> meiner nicht einfachen T<strong>an</strong>te Martha. Onkel Rudolf war der<br />

nächst ältere Bruder meines Vaters. Sie hatten ein weit größeres Gr<strong>und</strong>stück mit eigenem Wald<br />

am Fluss „Pissa“ gelegen. Der Fluss war <strong>aus</strong>gesprochen fischreich. Wenn es gelegentlich frischen<br />

Fisch zum Mittag geben sollte, nahm m<strong>an</strong> einen Drahtkorb, zog ihn durchs Wasser <strong>und</strong> brauchte<br />

die Fische nur nach der Größe sortieren. Für mich war das immer ein besonderes Erlebnis.<br />

Auch dieses Gr<strong>und</strong>stück war relativ weit vom Ortskern entfernt, aber nach der entgegengesetzten<br />

Seite von Onkel Herrm<strong>an</strong>n. Dort war ich eigentlich lieber, denn ich wurde nur gelegentlich in eine<br />

Dienstleistung einbezogen <strong>und</strong> suchte immer eigene Abenteuer. Dazu gehörte auch ein kleiner alter<br />

Friedhof g<strong>an</strong>z in der Nähe. Er wurde nicht mehr gepflegt <strong>und</strong> war seit Jahrzehnten sich selbst<br />

überlassen. Er war fast zugewachsen mit z. T. großen Bäumen. Obwohl ich normalerweise Friedhöfe<br />

mied <strong>und</strong> sie lieber <strong>aus</strong> der Ferne betrachtete, war es hier <strong>an</strong>ders. Ich empf<strong>an</strong>d irgendwie eine<br />

Beziehung zum Vergänglichen <strong>und</strong> zur Verg<strong>an</strong>genheit <strong>und</strong> studierte die teilweise noch lesbaren<br />

Grabinschriften. Die Toten störten nicht, es war fast rom<strong>an</strong>tisch.<br />

Aber so richtig einsam <strong>und</strong> allein war ich bei Onkel Rudolf kaum. Im Ort wohnte meine Kusine Lydia<br />

Brauer, die bereits erwähnte Tochter von Onkel Herrm<strong>an</strong>n <strong>und</strong> T<strong>an</strong>te Martha, mit ihren fünf<br />

Kindern. Die zwei ältesten waren in meinem Alter bzw. nur unwesentlich jünger als ich, aber richtige<br />

Dorfjungs. Wir waren viel zusammen <strong>und</strong> ich hielt mich zeitweilig auch dort auf. Die meisten<br />

Abenteuer suchten wir in Onkel Rudolfs Wald. Unter <strong>an</strong>derem bauten wir uns eine primitive versteckte<br />

Hütte, oder wir versuchten einen Fuchsbau <strong>aus</strong>zuheben. Es gab dort relativ viele Fuchs-<br />

<strong>und</strong> Dachsbauten.<br />

Das besondere Erlebnis war, dass wir einem jungen Schafsbock das Stoßen beibrachten. Dafür<br />

brauchten wir gar nicht viel Zeit. Zum Glück war es ein Tier mit nur kurzem Horn<strong>an</strong>satz, aber das<br />

hatte vorerst kaum Bedeutung. Das G<strong>an</strong>ze lief so ab. Der junge Bock lief frei auf dem Hof herum.<br />

Einer von uns machte sich klein <strong>und</strong> startete einen Schein<strong>an</strong>griff, zog sich aber g<strong>an</strong>z schnell zurück.<br />

Das wurde so oft wiederholt, dass sich der Bock letztlich als Sieger fühlte <strong>und</strong> uns von sich<br />

<strong>aus</strong> <strong>an</strong>griff. Das steigerte sich so weit, dass er auf jeden sich bewegenden Menschen zuraste <strong>und</strong><br />

auf ihn einstieß. Das Tier konnte nur noch <strong>an</strong>gepflockt gehalten werden. Eines Tages waren Frauen<br />

in der Nähe auf einem Acker bei der Feldarbeit. Der Bock riss sich los <strong>und</strong> raste wie ein Stier<br />

auf die Frauengruppe los. Sie versuchten sich mit ihren Arbeitsgeräten zu wehren, mussten letztlich<br />

aber die <strong>Flucht</strong> ergreifen. Das Tier hatte sich so kräftig entwickelt <strong>und</strong> war immer <strong>an</strong>griffsbereit,<br />

so dass es draußen auf der Weide nicht mehr <strong>an</strong>gepflockt gehalten werden konnte. Es wurde in<br />

den Stall verb<strong>an</strong>nt in einer Schweinekoje <strong>an</strong>gekettet. So ein bisschen stolz waren wir schon auf<br />

unseren Dressurerfolg.<br />

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