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Erinnerungen an Kindheit, Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen

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Am späten Nachmittag setzte sich der Zug in Bewegung. Es ging in den Kreis Preußisch-Eylau,<br />

der im südwestlichen <strong>Ostpreußen</strong> lag. Dort war die Verteilung auf Bauerngehöfte <strong>und</strong> <strong>an</strong>dere<br />

Quartiere bereits org<strong>an</strong>isiert. Unser Zug endete in Bartenstein, es war der nächstgelegene Bahnhof<br />

zu den Verteilungsorten. Vater <strong>und</strong> Helmut durften nicht mit uns mit. Da sie beide bei der Bahn<br />

arbeiteten, durften sie Eydtkau nicht verlassen. In Anbetracht eines möglichen Angriffs auf unsere<br />

Stadt bzw. den Bahnhof, st<strong>an</strong>d in der Folgezeit ein sogen<strong>an</strong>nter Bergungszug mit ständig unter<br />

Dampf stehender Lok abfahrbereit auf dem Hauptgleis. Die Bahnarbeiter schliefen auch in diesem<br />

Zug.<br />

Beim Verlassen unserer Wohnung <strong>und</strong> der Stadt wurden alle Ställe geöffnet, um das Kleinvieh -<br />

Hühner, Gänse <strong>und</strong> K<strong>an</strong>inchen - freizulassen. Die Schweine mussten <strong>an</strong> einer festgelegten Stelle<br />

abgeliefert werden, das erledigte Vater. Ich hätte nie geglaubt, wie schnell die Tiere wieder verwildern<br />

können. Die K<strong>an</strong>inchen lebten in Erdhöhlen, waren menschenscheu, Gänse <strong>und</strong> Hühner lebten<br />

im großen Verb<strong>und</strong>. Wir beobachteten das einige Zeit später bei einem Kurzaufenthalt im Oktober.<br />

Wie ging es bei uns weiter: Wir kamen nach Reddenau. Ein relativ großes Dorf am südlichen R<strong>an</strong>d<br />

des Kreises Preußisch-Eylau. Nur ca. 3 Kilometer südlich lag der Ort Katzen am Fluss Alle. Er gehörte<br />

bereits zum Kreis Heilsberg <strong>und</strong> zum historisch bedeutsamen Erml<strong>an</strong>d. Das Erml<strong>an</strong>d hat<br />

auch heute noch einen besonderen Status im südlichen, jetzt polnischen <strong>Ostpreußen</strong>. Ein Bauer<br />

war bereits über unsere Ankunft informiert <strong>und</strong> st<strong>an</strong>d mit dem Fuhrwerk am Bahnhof bereit, unser<br />

Gepäck <strong>und</strong> uns in Empf<strong>an</strong>g zu nehmen. Und so ging es d<strong>an</strong>n auf dem harten Ackerwagen <strong>und</strong><br />

dem holprigen Kopfsteinpflaster in unseren etwa 12 Kilometer entfernten Ort. Das Wohnh<strong>aus</strong> des<br />

Bauern war relativ groß. Unser Raum hatte einen eigenen Eing<strong>an</strong>g, den eigentlichen Haupteing<strong>an</strong>g<br />

des H<strong>aus</strong>es, der aber normal nicht genutzt wurde. Das war uns <strong>an</strong>genehm, es gab dadurch<br />

einen großen Flur, den wir mit nutzen konnten. Es gab aber eine Verbindung zur Futterküche <strong>und</strong><br />

dahinter liegenden Küche des Bauern.<br />

In unserem Zimmer bef<strong>an</strong>den sich zwei Betten, ein altes Sofa, ein großer Tisch mit Stühlen, ein<br />

Schr<strong>an</strong>k <strong>und</strong> ein beheizbarer Ofen. Es gab noch eine Truhe; sie wäre mir fast einmal zum Verhängnis<br />

geworden, weil ich mich darin versteckte, um Mutter zu erschrecken. Der Deckel ließ sich<br />

aber von innen nicht öffnen. Letztlich lebten wir <strong>aus</strong> unseren Kisten. Uns Kindern machte das nicht<br />

viel <strong>aus</strong> <strong>und</strong> die Zeit in Reddenau war sehr erlebnisreich <strong>und</strong> abenteuerlich. Ich hatte nicht das Gefühl<br />

unser Eydtkau zu vermissen.<br />

Die L<strong>an</strong>dschaft in dieser Region war sehr hügelig, es gab viel Wald, jeder größere Bauer hatte seinen<br />

eigenen Teich, darüber hin<strong>aus</strong> gab es noch mehrere Torfbrüche. Torf war ein billiges Heizmittel<br />

<strong>und</strong> die Gewinnung war mit wenig Technik möglich. Uns interessierten eigentlich mehr die Fische,<br />

die in diesen moorigen Gewässern lebten <strong>und</strong> uns zum Angeln ver<strong>an</strong>lassten. Direkt am Ort<br />

vorbei ging eine Art P<strong>an</strong>zersperre, heutigen P<strong>an</strong>zern mit Sicherheit nicht mehr gewachsen. Nach<br />

den Erfahrungen des 1. Weltkrieges hatte m<strong>an</strong> in <strong>Ostpreußen</strong> mehrere Befestigungsgürtel <strong>an</strong>gelegt.<br />

Hier h<strong>an</strong>delte es sich um das sogen<strong>an</strong>nte Heilsberger Dreieck. Es war die südlichste Spitze<br />

des Gürtels. Die P<strong>an</strong>zersperre best<strong>an</strong>d <strong>aus</strong> mehreren Reihen dicker, tief in die Erde gerammter<br />

Baumstämme. Die Höhe dieser Stämme wechselte ständig. M<strong>an</strong> meinte wohl, dass der P<strong>an</strong>zer<br />

sich aufhängt <strong>und</strong> zumindest eine Kette frei läuft. An querenden Straßen lagen gestapelt eine Vielzahl<br />

Baumstämme, die sollten im Ernstfall in bestimmter Höhe über die Straße gelegt werden. Um<br />

den Ort verteilt waren Betonbunker <strong>an</strong>gelegt, sie waren verschlossen, jedoch sofort nutzbar. In den<br />

Wäldern ringsum gab es Stacheldrahtsperren. Im Prinzip locker <strong>aus</strong>gerollter Stacheldraht, der zu<br />

dieser Zeit bereits mit Gras <strong>und</strong> Niederwuchs verwachsen war <strong>und</strong> besonders für Rehwild gefährlich<br />

war. Wir k<strong>an</strong>nten Durchbrüche <strong>und</strong> Durchgänge, die meist mit den Wildwechseln identisch waren.<br />

Kurz nach unserer Ankunft in Reddenau waren wir sofort bei den Jungs im Dorf akzeptiert <strong>und</strong> fühlten<br />

uns durch diese erste <strong>Flucht</strong> kaum belastet. Die Menschen dort waren sehr entgegenkommend<br />

<strong>und</strong> kontaktfreudig. Allerdings hatten wir mit unserem Quartier nicht unbedingt das große Los gezogen.<br />

Es gab keinen Bauern, sondern nur eine Bäuerin, die das Sagen hatte. Der M<strong>an</strong>n war wohl<br />

verstorben. Es gab aber einen sogen<strong>an</strong>nten Wirtschafter, der eigentlich Knecht war <strong>und</strong> nichts zu<br />

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