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Erinnerungen an Kindheit, Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen

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Lebenserinnerungen H<strong>an</strong>s-Siegfried Marks, Albrecht Dürer Str. 18, 06217 Merseburg, Tel. 03461-212739<br />

wieder zum Schuldienst. Weibliche Lehrer gab es damals nur wenig, so dass der Lehrerm<strong>an</strong>gel offensichtlich<br />

war. Diese älteren Pensionäre waren nach ihren vielen Dienstjahren nervlich verbraucht<br />

<strong>und</strong> nur noch wenig belastbar. Wir bekamen so einen alten Herrn in den Fächern Deutsch<br />

<strong>und</strong> Musik. Ich gebe ihm mal den Namen Raguczat, so ähnlich hieß er wohl auch. Er unterrichtete<br />

früher in einer Dorfschule <strong>und</strong> war dort bestimmt eine Autorität.<br />

In Musik versuchte er in guter Absicht oft den Unterricht mit seiner Geige zu unterstützen. Er meinte<br />

es gut, hatte aber noch nicht erk<strong>an</strong>nt, dass er mit leicht gichtverkrümmten Fingern die Saiten<br />

nicht mehr so richtig <strong>und</strong> oft <strong>an</strong> der falschen Stelle erwischte. Für musikalisch ver<strong>an</strong>lagte Menschen,<br />

selbst für Kinder, war das kein Hochgenuss seiner Spielkunst. So freuten wir uns schon<br />

immer auf die Musikst<strong>und</strong>e. Unser unterdrücktes Lachen muss ihm aufgefallen sein, denn oft<br />

musste der Geigenstock als Rohrstockersatz herhalten. Eigentlich ist der Geigenstock bei einem<br />

Musiker etwas g<strong>an</strong>z besonderes <strong>und</strong> wird entsprechend behütet. Aber das Verhalten spiegelte seine<br />

nervliche Belastbarkeit wider <strong>und</strong> Kinder zeigen da kaum Einfühlungsvermögen <strong>und</strong> Mitleid.<br />

Einmal ging es um die Schuljahresnote Musik für das Zeugnis. G<strong>an</strong>z rationell durften immer 3<br />

Schüler vor die Klasse treten <strong>und</strong> gemeinsam ein Lied eigener Wahl singen. Da wir im „Jungvolk“,<br />

der nationalsozialistischen Jugendorg<strong>an</strong>isation für die 10 bis 14-jährigen, ständig Marschlieder<br />

lernten <strong>und</strong> s<strong>an</strong>gen, lag es nahe, so ein Lied zu singen. Wir drei entschieden uns für das Lied: „Wir<br />

sind die P<strong>an</strong>zersoldaten <strong>und</strong> immer schwer auf Zack, wir jagen, wir fliegen, wir fahren, mit Teufel<br />

<strong>und</strong> Tod um die Wett…“ Diese Marschlieder waren so verinnerlicht, dass m<strong>an</strong> sie heute noch abrufen<br />

könnte. Jedenfalls erhielten wir 3 vortragenden „Sänger“ die Einheitsnote „3“, die d<strong>an</strong>n auch<br />

auf dem Zeugnis st<strong>an</strong>d.<br />

Auch in der Deutschst<strong>und</strong>e ging es bei unserem Herrn Raguczat einmal sehr lustig zu. Wir schrieben<br />

ein Diktat. Der alte Herr ging ständig durch die Reihen <strong>und</strong> schaute dabei meist in die Hefte.<br />

An unserer Reihe <strong>an</strong>gekommen, hat’s meinen Nachbarn, rechts von mir sitzend, voll erwischt. Er<br />

hatte etwas unverzeihlich falsch geschrieben. Das war für unseren nervlich verbrauchten alten<br />

Herrn zu viel <strong>und</strong> er verlor die Beherrschung. Mit den Worten „Du erbärmlicher Wicht“ zog er ihn<br />

kräftig <strong>an</strong> den Haaren, die Spucke lief ihm dabei <strong>aus</strong> dem M<strong>und</strong> <strong>und</strong> direkt auf das mit Tinte beschriebene<br />

Heft bzw. Blatt. Zur Wiedergutmachung zog er den Ärmel seines Jacketts über die<br />

H<strong>an</strong>d nach unten <strong>und</strong> versuchte mit dem Ärmel die Spucke abzuwischen. Das ist ihm nicht so richtig<br />

gelungen. Die Seite sah d<strong>an</strong>n <strong>aus</strong> wie ein expressionistisches Gemälde im Kleinformat. Ob es<br />

bei der Benotung mildernde Umstände gab oder ob er erneut die Nerven verlor, ließ sich <strong>an</strong> der<br />

gegebenen Note nicht feststellen.<br />

Das war <strong>aus</strong>gerechnet der Lehrer, mit dem mein Vater d<strong>an</strong>n <strong>aus</strong>geh<strong>an</strong>delt hat, dass ich zur Mittelschule<br />

gehen sollte. Der alte Herr war davon <strong>an</strong>get<strong>an</strong> <strong>und</strong> unterstützte das Anliegen. Mir gegenüber<br />

war er seitdem besonders nett. Die Mittelschule beg<strong>an</strong>n mit dem fünften Schuljahr <strong>und</strong> es<br />

musste Schulgeld gezahlt werden. Es war eine „höhere Bildungseinrichtung“, in der m<strong>an</strong> die „Mittlere<br />

Reife“ erwerben konnte, ein Privileg für die Kinder von Beamten <strong>und</strong> des Mittelst<strong>an</strong>des. Kinder<br />

<strong>aus</strong> ärmeren Verhältnissen waren die Ausnahme. Aber bei Kindern <strong>aus</strong> kinderreichen Familien<br />

musste m<strong>an</strong> Zugeständnisse machen, für die gab es sogar einen Schulgelderlass. Und zu denen<br />

gehörte ich ja.<br />

Mein Vater ging bei seiner Entscheidung vermutlich davon <strong>aus</strong>, ich sollte mal Lehrer werden. Vor<br />

längerer Zeit, als es so nebenbei mal um mögliche Berufe ging, meinte er einmal: „Du wirst Arschkepitscher“.<br />

Normal sprach Vater nie Plattdeutsch, das galt gr<strong>und</strong>sätzlich für unseren Umg<strong>an</strong>g in<br />

der Familie, aber hier war das <strong>an</strong>gebracht, er hätte sonst „Arschpeitscher“ sagen müssen <strong>und</strong> in<br />

platt wirkt das nicht so ordinär, denn das war die volkstümliche Bezeichnung für einen Lehrer.<br />

Dass ich Lehrer werden sollte traf mich damals so hart, dass ich zu Heulen <strong>an</strong>fing. So ein Beruf<br />

war für mich, zumindest in diesem Alter, fast eine Beleidigung. Vater muss aber sehr frühzeitig erk<strong>an</strong>nt<br />

haben, dass ich entsprechende Anlagen besaß. Und so kam es d<strong>an</strong>n auch. Nach der 4.<br />

Klasse wechselte ich in die „Bismarckschule“, der einzigen höheren Schule in der Stadt. Zum<br />

Gymnasium musste m<strong>an</strong> in die Kreisstadt Ebenrode fahren. Zu diesem Zeitpunkt hatte das für<br />

mich aber keine Bedeutung.<br />

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