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Erinnerungen an Kindheit, Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen

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Die Mäuseplage hatte ich bereits erwähnt. Wir führten sie darauf zurück, dass es keine natürlichen<br />

Feinde für Mäuse mehr gab <strong>und</strong> sie sich durch die fehlende Bewirtschaftung der Äcker ungehindert<br />

fortpfl<strong>an</strong>zen konnten. Im Winter beg<strong>an</strong>n durch Kälteeinruch <strong>und</strong> fehlendes Futter in der Natur die<br />

Masseninvasion in die Wohnhäuser. Früh, kurz vor dem Hellwerden, wurden die Mäuse besonders<br />

aktiv. Ich hatte viele M<strong>aus</strong>efallen aufgestellt. Häufig schaffte ich es gar nicht wieder ins Bett, wenn<br />

ich eine tote M<strong>aus</strong> im Dunkeln <strong>aus</strong> der Falle her<strong>aus</strong>genommen <strong>und</strong> die Klappfalle neu aufstellt hatte.<br />

Schon klappte sie wieder zu. M<strong>an</strong>chmal war es auch lustig. Einmal, ich blieb etwas länger im<br />

Bett <strong>und</strong> es war schon hell geworden, spazierten zwei Mäuse auf dem Bettgiebel <strong>und</strong> fingen <strong>an</strong><br />

sich zu z<strong>an</strong>ken. Das sah so <strong>aus</strong> wie eine Vorführung im Mäusezirkus. Es gab keine Alternative: Wir<br />

mussten mit den Mäusen leben <strong>und</strong> uns <strong>an</strong> ihre Anwesenheit gewöhnen.<br />

Ich baute Käfigfallen mit einem Eing<strong>an</strong>g nach dem Prinzip einer Fischreuse. Damit konnte ich die<br />

Mäuse sicher f<strong>an</strong>gen. In einem Wassereimer habe ich d<strong>an</strong>n ihre Kondition beim Schwimmen getestet,<br />

doch sie war nicht besonders <strong>aus</strong>geprägt, „sie ertr<strong>an</strong>ken jedes Mal“. Solche Käfigfallen habe<br />

ich mehrfach <strong>an</strong>gefertigt. Die Polen waren d<strong>an</strong>kbare Abnehmer <strong>und</strong> ich bekam immer einen<br />

Gegenwert.<br />

Im Winter suchte m<strong>an</strong> eine Beschäftigung in der warmen Stube, zumal der Winter 1945/46 <strong>aus</strong>gesprochen<br />

kalt war. Immer wieder wurde ich beim Herumkramen auf den H<strong>aus</strong>böden <strong>an</strong>imiert, ein<br />

Spinnrad zu komplettieren <strong>und</strong> zu probieren, wie schwierig das Spinnen ist. Gr<strong>und</strong>sätzlich waren<br />

Spinnräder, Haspeln, Webstühle u. Ä. auf der Mehrzahl der H<strong>aus</strong>böden zu finden. Vieles war beschädigt,<br />

aber <strong>aus</strong> mehreren beschädigten Spinnrädern ließ sich ein funktionierendes zusammenbauen.<br />

Schurwolle war kaum zu finden, aber <strong>aus</strong>gesprochen viel Wolle, die bereits zu einem Faden<br />

gesponnen war, jedoch noch gezwirnt werden musste. Mit <strong>an</strong>deren Worten: Es mussten zwei<br />

Fäden zusammengedrillt werden. Das klappte recht gut <strong>und</strong> bald hatten wir viel Wolle zum Stricken.<br />

Mutter konnte nur Socken <strong>und</strong> H<strong>an</strong>dschuhe stricken. Andere Kleidungsstücke wie Pullover oder<br />

Strickjacken waren für sie eine Nummer zu groß. Durch ihr Stricken <strong>an</strong>geregt, wollte ich das auch<br />

lernen. Der erste Versuch verlief wie bei allen Anfängern: Die Maschen waren so fest, dass ich<br />

kaum eine Stricknadel hineinbekam. Nach kurzer Zeit war ich in der Lage Socken, Fingerh<strong>an</strong>dschuhe,<br />

F<strong>aus</strong>th<strong>an</strong>dschuhe <strong>und</strong> Schals zu stricken. Später fertigte ich auch Einzelteilen für eine<br />

Strickjacke.<br />

Wenn ich etwas beherrschte, hörte ich damit auf <strong>und</strong> suchte nach etwas <strong>an</strong>derem. Fast zeitgleich<br />

nähte ich Fellh<strong>an</strong>dschuhe <strong>aus</strong> K<strong>an</strong>inchenfell für ein immer frierendes Nachbarmädchen. Das Erfolgserlebnis<br />

kam hierbei schneller als beim Stricken.<br />

Das Jahr 1945 näherte sich dem Ende <strong>und</strong> Weihnachten st<strong>an</strong>d vor der Tür. Einen Baum im nahen<br />

Wäldchen zu finden, war kein Problem, m<strong>an</strong> konnte sogar wählerisch sein. Aber ein Weihnachtsbaum<br />

sollte ja geschmückt sein <strong>und</strong> Kerzen sollten dar<strong>an</strong> brennen. Weder Schmuck noch Kerzen<br />

gab es. Auch hier hatte ich wieder einen brauchbaren Einfall. In den bereits erwähnten „Müllhaufen“<br />

vor den Häusern lagen auch zertrümmerte Radios. In diesen Geräten bef<strong>an</strong>den sich Kondensatoren,<br />

die früher sehr groß waren. Das Innenleben eines solchen Kondensators best<strong>an</strong>d u. a.<br />

<strong>aus</strong> einer Art Aluminiumfolie. Vergossen waren diese Bauelemente mit Teer oder Wachs. Aus der<br />

Folie fertigte ich glitzernde Ketten, die am Baum recht <strong>an</strong>sehnlich waren. Mit den Kerzen war es<br />

komplizierter. Aus der Vergussmasse der Kondensatoren goss ich Kerzen, die in ihrer Zusammensetzung<br />

letztlich ein Gemisch <strong>aus</strong> Wachs <strong>und</strong> Teer waren. So br<strong>an</strong>nten sie d<strong>an</strong>n auch bei unserer<br />

gedämpften <strong>und</strong> wehmütigen Feier am Heiligabend: Es waren kurzlebige „Rußfackeln“ <strong>und</strong> ich<br />

musste aufpassen, dass der Baum nicht in Flammen aufging. Obwohl es ein trauriger Heiligabend<br />

war, wurde die Weihnachtsgeschichte <strong>aus</strong> der Bibel vorgelesen <strong>und</strong> wurden die bek<strong>an</strong>nten Weihnachtslieder<br />

gesungen.<br />

Noch eine lustige Ergänzung zu meinem Weihnachtsbaum. Für die Spitze hatte ich einen Stern<br />

gebastelt <strong>und</strong> mit Alufolie überzogen. Ich war stolz auf diesen Einfall. Unser bek<strong>an</strong>nter Pole, Wlader,<br />

besuchte uns <strong>an</strong> einem der Weihnachtsfeiertage <strong>und</strong> bew<strong>und</strong>erte unseren Baum. D<strong>an</strong>n meinte<br />

er lächelnd: „H<strong>an</strong>tschik, warum hast du einen Sowjetstern auf die Spitze gesetzt?“ Mein Stern<br />

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