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Erinnerungen an Kindheit, Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen

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Pferd ist schwer <strong>und</strong> dieses war dazu noch total verklemmt. Zu Beginn stiegen wir immer über das<br />

tote Pferd hinweg, wenn wir Kartoffeln <strong>aus</strong> dem Keller holen wollten, auch das war schon beschwerlich.<br />

Wir waren uns darüber einig, dass das Pferd <strong>aus</strong> dem H<strong>aus</strong> muss, wenn es weiterhin<br />

bewohnbar bleiben sollte.<br />

Da Bauern, die Frauen eingeschlossen, auf dem Dorf mit so m<strong>an</strong>cher schwierigen Situation groß<br />

geworden sind <strong>und</strong> gr<strong>und</strong>sätzlich nicht zimperlich sein durften, wurde entschieden, das Tier zu zerlegen<br />

<strong>und</strong> stückweise <strong>aus</strong> dem Keller zu tragen. Das war kompliziert, da die Treppe relativ eng<br />

war, um die Ecke ging <strong>und</strong> die Lage des Pferdes wenig Bewegungsfreiheit zum Arbeiten ließ. Auch<br />

hier versuchte ich mich zu drücken. Die Initiative übernahm der von Rastenburg zurückgekommene<br />

Bauer L<strong>an</strong>gh<strong>an</strong>s, der das Pferd zerlegte <strong>und</strong> den Tr<strong>an</strong>sport der Pferdestücke bewältigten zwei<br />

junge Frauen. Als Behältnis diente eine große W<strong>an</strong>ne. Bis auf die Eingeweide, die st<strong>an</strong>ken <strong>und</strong><br />

Brechreiz <strong>aus</strong>lösten, ließ sich alles <strong>an</strong>dere geruchsmäßig ertragen. Jedenfalls wurde das Pferd in<br />

tr<strong>an</strong>sportfähige Stücke gesägt, <strong>aus</strong> dem Keller entfernt <strong>und</strong> wir hatten wieder einen freien Zug<strong>an</strong>g.<br />

Selbstverständlich f<strong>an</strong>d sich d<strong>an</strong>ach auch etwas für die Abdeckung der Kellertreppe.<br />

Es könnte die letzte Februarwoche gewesen sein, da kamen wieder mehrere Soldaten, z. T. mit<br />

niederem Dienstgrad, <strong>und</strong> forderten uns auf, das H<strong>aus</strong> zu räumen. Einen Gr<strong>und</strong> gab es eigentlich<br />

nicht, denn es ging ihnen nicht darum, Quartier für einen größeren Trupp vorzubereiten. Das war<br />

wieder eine der typischen Schik<strong>an</strong>en. Wie schon vorher, so hieß auch diesmal die Zielorientierung:<br />

Bartenstein. Einen <strong>an</strong>deren Ort schienen die Russen wohl nicht zu kennen. Wir bereiteten uns für<br />

das Weggehen vor, das war ja nicht sehr zeitaufwendig. Schnell wurde noch Milch <strong>aus</strong> dem letzten<br />

Best<strong>an</strong>d aufgekocht <strong>und</strong> in eine Thermosflasche gefüllt. Die Flasche wurde dem Säugling in den<br />

Kinderwagen gelegt <strong>und</strong> nun sollte es losgehen, natürlich wieder ins Ungewisse. Da fing das Kind<br />

fürchterlich <strong>an</strong> zu weinen <strong>und</strong> zu schreien <strong>und</strong> ließ sich nicht beruhigen. Wie üblich wurde es noch<br />

einmal <strong>aus</strong> dem Kinderwagen genommen <strong>und</strong> d<strong>an</strong>n wussten wir auch, warum das Kind nicht zu<br />

beruhigen war. Die Thermosflasche hatte sich geöffnet, die kochend heiße Milch hatte das Kind<br />

am Bauch bis hin zum Rücken verbrüht. Und das setzte sich fort bis zum Oberschenkel <strong>und</strong> einem<br />

Oberarm. Wir meinten, es war ein Viertel bis ein Drittel der Körperfläche. Als die Russen das sahen,<br />

winkten sie ab <strong>und</strong> wir durften bleiben.<br />

Was tun in dieser Situation? Die Möglichkeiten einer medizinischen Versorgung gab es nicht. Die<br />

verbrühte Haut wurde nur mit konzentriert aufgebrühter Kamille abgetupft <strong>und</strong> Mull von den textilen<br />

Windeln aufgelegt. Bald löste sich die gesamte verbrühte Haut <strong>und</strong> es war nur noch offenes<br />

Fleisch. Unsere Mutter erinnerte sich, dass ihre Eltern in ihrer <strong>Kindheit</strong> von der Milch abgeschöpfte<br />

Sahne in einem Tiegel bei relativ großer Hitze eingedampft hatten <strong>und</strong> als eine Art Salbe verwendet<br />

hatten. Das wurde d<strong>an</strong>n auch so praktiziert. Zumindest klebte der Mull nicht mehr wie bisher<br />

fest <strong>und</strong> es beg<strong>an</strong>n tatsächlich der Heilungsprozess, die verbrühten Bereiche wurden l<strong>an</strong>gsam<br />

kleiner. Es vergingen aber einige Monate bis zur Ausheilung, aber das Kind hat, trotz der Entbehrungen<br />

in dieser Zeit, überlebt. Zurück blieb nur eine großflächig vernarbte Haut.<br />

Unsere <strong>Vertreibung</strong> <strong>aus</strong> dem H<strong>aus</strong> hatte sich durch diesen Vorfall aber nur verzögert. Es könnte<br />

bereits Anf<strong>an</strong>g März gewesen sein, da mussten wir letztlich doch <strong>aus</strong> dem H<strong>aus</strong> <strong>und</strong> erneut ins<br />

Ungewisse aufbrechen. Es ging wieder zurück in Richtung L<strong>an</strong>dsberg/Hoofe. Die Straßen- bzw.<br />

Wegebedingungen zw<strong>an</strong>gen uns, die befestigten Straßen zu benutzen. Militärtr<strong>an</strong>sporte in größerer<br />

Konzentration gab es nicht mehr, die Straßen waren meist frei. Wir bef<strong>an</strong>den uns bereits auf<br />

der Straße von Bartenstein nach L<strong>an</strong>dsberg, da hatten wir folgendes Erlebnis: Neben dem Kinderwagen<br />

hatten wir jetzt noch einen kleinen H<strong>an</strong>dwagen, auf ihm war ein Teil unseres Gepäcks. Obendrauf<br />

wurde der kleine 4jährige Neffe unserer Bäuerin gesetzt. Für uns war solch Tagesmarsch<br />

schon eine Strapaze, für so ein Kind nicht zu bewältigen. Unserem Werner mit sechs Jahren wurde<br />

der Fußmarsch aber schon zugemutet. Von hinten, <strong>aus</strong> Richtung Bartenstein, kam ein Militär-LKW,<br />

ein Pritschenfahrzeug mit aufgesessenen Soldaten. Obwohl wir uns schon g<strong>an</strong>z rechts am Straßenr<strong>an</strong>d<br />

bewegten, nahm uns der LKW voll aufs Korn mit der Absicht, uns zu rammen. Wir, die wir<br />

zu Fuß neben dem Wagen gingen, konnten zur Seite springen, aber der H<strong>an</strong>dwagen wurde voll<br />

erwischt <strong>und</strong> flog in hohem Bogen in Richtung Straßengraben. Den kleinen Jungen oben drauf<br />

schleuderte es auch fort, aber er blieb unverletzt. Mit einem Freudengebrüll der aufgesessenen<br />

Soldaten fuhr der LKW in Richtung L<strong>an</strong>dsberg davon. Wir hatten wieder einmal Glück, dass uns<br />

nichts Ernsthaftes passiert war.<br />

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