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Erinnerungen an Kindheit, Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen

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Lebenserinnerungen H<strong>an</strong>s-Siegfried Marks, Albrecht Dürer Str. 18, 06217 Merseburg, Tel. 03461-212739<br />

Einige Kilometer weiter <strong>und</strong> zu fortgeschrittener Tageszeit wurde die Mutter des kleinen Säuglings<br />

immer unruhiger, das Kind musste versorgt werden. Es ging eigentlich nur darum, einfachen<br />

schwarzen Kaffee warm zu machen. Wir näherten uns einem H<strong>aus</strong>, welches nur etwa 50 Meter<br />

von der Straße entfernt war. Aus dem Schornstein kam Rauch, also musste es bewohnt sein. Die<br />

junge Mutter fasste Mut <strong>und</strong> ging mit ihrem Vater in unsicherem Gefühl auf das H<strong>aus</strong> zu. Wir warten<br />

ab. Nach einer längeren Zeit kamen beide in Begleitung eines älteren russischen Soldaten zurück.<br />

Er hatte eine große Teek<strong>an</strong>ne mit heißem Tee bei sich <strong>und</strong> versorgte uns alle damit. Anschließend<br />

sollten die zwei Männer, die einzigen alten, die noch übrig geblieben waren, mit ihm<br />

mitgehen. Wir hatten gemischte Gefühle <strong>und</strong> wussten nicht, was er vorhatte. Nach dem eben Erlebten<br />

glaubten wir aber nicht <strong>an</strong> etwas Böses. Es verging eine g<strong>an</strong>ze Weile, da kamen unsere<br />

Männer zurück, einer trug einen gefüllten Sack auf dem Rücken. Was kaum wahr sein konnte, der<br />

Sack war gefüllt mit russischen Provi<strong>an</strong>tbroten. Das sind überdicke Brotscheiben, die irgendwie geröstet<br />

<strong>und</strong> damit haltbar gemacht worden waren. Das Brot war zwar z. T. nass, es muss Regen abbekommen<br />

haben oder lag in einer Pfütze, aber wir konnten es in einem neuen Quartier trocknen<br />

<strong>und</strong> hatten somit für einige Tage Provi<strong>an</strong>t. Dies war wieder einer der kaum glaubhaften Widersprüche<br />

dieser Zeit. Ich k<strong>an</strong>n wieder nur sagen: Auch das gab es!<br />

Wir setzten unseren Weg ins Ungewisse fort, die Tageszeit war fortgeschritten <strong>und</strong> wir mussten <strong>an</strong><br />

eine mögliche. Bleibe denken. Städte wollten wir meiden, <strong>an</strong>dererseits waren wir nur noch etwas<br />

weniger als zwei Kilometer von L<strong>an</strong>dsberg entfernt. Ein Wegweiser nach Peisken bzw. Kleinpeisken<br />

gab einen Hinweis auf eine Übernachtungsmöglichkeit. Peisken war ein großes Gut mit allem,<br />

was zu einer Ansiedlung dazugehörte. Direkt am Fahrweg dorthin st<strong>an</strong>d in wenigen h<strong>und</strong>ert<br />

Metern Entfernung von der Straße ein einzelnes H<strong>aus</strong>. Es schien unbewohnt <strong>und</strong> könnte eine mögliche<br />

Unterkunft werden. Wir gingen auf direktem Weg dorthin <strong>und</strong> f<strong>an</strong>den tatsächlich bewohnbare<br />

Räume, die nur wenig verwüstet waren. Ein Teil des H<strong>aus</strong>es war durch einen Gr<strong>an</strong>attreffer merkbar<br />

zerstört, aber zwei Zimmer <strong>und</strong> die Küche waren bewohnbar. Trotzdem zogen wir uns alle in<br />

einen Raum zurück. Es gab uns wie bisher ein Gefühl größerer Sicherheit. Wir waren zu dieser<br />

Zeit 15 Personen. Eine junge Frau mit ihrer etwa 8jährigen Tochter hatte sich von irgendwo kommend<br />

unserer Gruppe <strong>an</strong>geschlossen. Sie stammte <strong>aus</strong> L<strong>an</strong>dsberg <strong>und</strong> hatte früher als Familienbetrieb<br />

ein kleines Fuhrunternehmen. Im H<strong>aus</strong> f<strong>an</strong>den wir wie bisher meist Kartoffeln <strong>und</strong> Mehl für<br />

die Gr<strong>und</strong>versorgung. Auch f<strong>an</strong>den wir im Umfeld einen eingepökelten Schweineschinken, der in<br />

voller Größe gekocht eine Beilage zu unserem Russenbrot wurde. Natürlich hatte auch hier die alte<br />

Frau L<strong>an</strong>gh<strong>an</strong>s die Gewalt über die Küche <strong>und</strong> herrschte über alles, was damit im Zusammenh<strong>an</strong>g<br />

st<strong>an</strong>d.<br />

Am nächsten Morgen erforschten wir wie üblich das unmittelbare Umfeld. Gleich hinter dem H<strong>aus</strong><br />

war ein Gelände mit tiefen Bodensenken, Steilwänden <strong>und</strong> Buschwerk. In normalen Zeiten das<br />

Richtige zum Verstecken spielen. Wenn ich mich recht erinnere, hatte m<strong>an</strong> dort früher Ton für eine<br />

Ziegelei abgebaut. Ein Trampelpfad führte in dieses unwegsame Gelände, das wir auch nach etwas<br />

Verwertbarem absuchen wollten. Nur wenige Meter entfernt, in der ersten Senke, lag eine getötete<br />

junge Frau. Die Kleidung war vom Unterleib gerissen, vermutlich hatte m<strong>an</strong> sich brutal <strong>an</strong> ihr<br />

verg<strong>an</strong>gen. So einen Anblick vergisst m<strong>an</strong> nicht, <strong>und</strong> doch gehörte er zum damaligen Alltag.<br />

Wir lebten dort die ersten zehn Märztage. Mit dem, was wir im H<strong>aus</strong> f<strong>an</strong>den, waren wir versorgt. Es<br />

war auch Roggenschrot im H<strong>aus</strong>, so dass auch Brot gebacken werden konnte. Da alle gemauerten<br />

Küchenherde auch über einen Backofen verfügten <strong>und</strong> Feuerungsmaterial auf den Gr<strong>und</strong>stücken<br />

zu finden war, gab es da kein Problem. Es dauerte aber nicht l<strong>an</strong>ge, da hatten uns die Russen<br />

wieder aufgestöbert. Das war ja auch recht einfach, denn wir verrieten uns durch den meist qualmenden<br />

Schornstein. Nach kurzer Zeit bekamen wir täglich „Besuch“ durch einen eigentlich friedlich<br />

wirkenden Russen. Er kam zu seiner täglichen Vergewaltigung der immer gleichen Frau. Später<br />

brachte er noch einen Begleiter mit. Wir verließen wie auch <strong>an</strong>derswo kaum das H<strong>aus</strong>, um niem<strong>an</strong>den<br />

auf uns aufmerksam zu machen. Täglich früh kam eine gepflegte Zweispännerkutsche <strong>an</strong><br />

unserem H<strong>aus</strong> vorbei. Ein hoher sowjetischer Offizier ließ sich zu seiner Dienststelle nach L<strong>an</strong>dsberg<br />

fahren. Abends ging es d<strong>an</strong>n zurück. Er hatte vermutlich sein Quartier auf dem Gut in Großpeisken.<br />

Der befestigte Fahrweg neben unserem Gehöft war für ihn die wohl kürzeste Verbindung.<br />

Als die Belästigungen der Frauen immer unerträglicher wurden, fassten einige Frauen den Mut <strong>und</strong><br />

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