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Erinnerungen an Kindheit, Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen

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Lebenserinnerungen H<strong>an</strong>s-Siegfried Marks, Albrecht Dürer Str. 18, 06217 Merseburg, Tel. 03461-212739<br />

Das war der Bereich eines Gr<strong>an</strong>attreffers. Eine zweite Gr<strong>an</strong>ate hatte den Schornsteinkopf getroffen,<br />

der über dem Dach war <strong>und</strong> ließ ihn nach innen kippen. Er hing d<strong>an</strong>n relativ fest auf der darunter<br />

stehenden Räucherkammer, ließ sich aber nicht entfernen. Bedenken hinsichtlich eines Br<strong>an</strong>des<br />

gab es, weil jetzt das Stroh bzw. Schilf im Abzugbereich frei darüber ragte. Auch hatten wir<br />

Sorge, dass sich die verklemmte Schornsteinkrone doch eines Tages lösen könnte. Bei dem Gewicht<br />

hätte sie die Küchendecke mühelos durchschlagen <strong>und</strong> jem<strong>an</strong>den von uns treffen können.<br />

Eine dritte Gr<strong>an</strong>ate hatte auf einem <strong>an</strong>deren Dachteil etwa ein Drittel des Daches zum Einsturz gebracht.<br />

Dieses Stück Dach lag direkt auf der Zimmerdecke <strong>und</strong> eine Inst<strong>an</strong>dsetzung war nicht möglich.<br />

Dadurch, dass ein Reeddach mindestens 30 cm dick ist, hielt das eingestürzte Dachteil sehr<br />

l<strong>an</strong>ge den Regen ab <strong>und</strong> auch dieses Zimmer war noch l<strong>an</strong>ge bewohnbar. Die vierte Gr<strong>an</strong>ate hatte<br />

das H<strong>aus</strong> direkt unter einem Fenster getroffen. Durch das jetzt fehlende W<strong>an</strong>dstück bot es sich <strong>an</strong>,<br />

das Fenster zu einer zusätzlichen Tür umzufunktionieren. Zum Glück h<strong>an</strong>delte es sich nur um einen<br />

kleinen Nebenraum mit dem Eing<strong>an</strong>g zum Keller. Nach kurzem Nachdenken holten wir <strong>aus</strong> einem<br />

unbewohnten H<strong>aus</strong> in der Nähe eine Tür mit Rahmen <strong>und</strong> passten sie in das Loch ein. Das<br />

war nicht schwierig, denn das H<strong>aus</strong> hatte dicke Lehmwände <strong>und</strong> da konnte m<strong>an</strong> mit wenig Aufw<strong>an</strong>d<br />

den Durchbruch so bearbeiten, dass die Tür hineinpasste. Verschmiert wurde d<strong>an</strong>n alles mit<br />

einer Lehmpampe. Nach dem Trocknen wirkte das sogar richtig fachmännisch. Diese neue Tür war<br />

jetzt auf der Hinterseite des H<strong>aus</strong>es <strong>und</strong> wurde mehr genutzt als die richtige H<strong>aus</strong>tür.<br />

Die Abdichtung des Daches im bewohnten Teil des H<strong>aus</strong>es hatte Priorität. Es war ein Loch von etwa<br />

zwei Meter Durchmesser. Zum Glück waren die Dachbalken nicht beschädigt, so dass wir als<br />

Erstes Bretter überlappt draufnageln konnten. D<strong>an</strong>n holten wir uns von einem entfernten Gehöft<br />

Blechelemente von einem Schuppendach <strong>und</strong> nagelten sie zusätzlich drauf. Damit war das Dach<br />

dauerhaft regendicht.<br />

Mit dem Wärmerwerden, es war der späte Monat Mai, beg<strong>an</strong>nen die herumliegenden Tierkadaver<br />

in eine fortgeschrittene Verwesung überzugehen. Es st<strong>an</strong>k fürchterlich. Dieser Geruch steckt mir<br />

heute noch so in der Nase, dass ich bei einem vergleichbaren Geruch sofort in diese Zeit versetzt<br />

werde. Dazu gehört u. a. der Geruch der „Stinkmorchel“, ein häufig vorkommender ungenießbarer<br />

Waldpilz. Jede neue Windrichtung, die uns einen Verwesungsgeruch zuführte, war Anlass, den<br />

Spaten zu nehmen <strong>und</strong> in die entsprechende Richtung zu ziehen. Meist waren es verendete Pferde.<br />

Wir haben sie d<strong>an</strong>n mit Erde zugedeckt. Das Un<strong>an</strong>genehme war dabei, dass um so einen Kadaver<br />

herum ein zentimeterdicker Teppich <strong>aus</strong> Maden schwamm. In der ersten Phase waren diese<br />

verwesenden Tiere wie ein Ballon aufgebläht. Vergleichbar mit einer Explosion fiel d<strong>an</strong>n eines Tages<br />

das G<strong>an</strong>ze zusammen <strong>und</strong> es gab nur noch ein Knochengerüst mit Fell.<br />

Der Krieg ist vorbei<br />

Dass Deutschl<strong>an</strong>d kapituliert hatte, <strong>und</strong> der Krieg zu Ende war, erfuhren wir d<strong>an</strong>n, nicht aber das<br />

genaue Datum. Die Russen sagten immer nur: „Gitler kapuut, woina konschel!“ – „Hitler kaputt,<br />

Krieg zu Ende!“ Irgendwie erfuhren wir auch, dass <strong>Ostpreußen</strong> geteilt wird. Der südliche Teil geht<br />

<strong>an</strong> Polen, der nördliche Teil wird russisch. Die Grenze wurde fast wie mit einem Lineal gezogen<br />

<strong>und</strong> verlief nur knapp Zehn Kilometer nördlich von L<strong>an</strong>dsberg.<br />

Polen beg<strong>an</strong>n mit einer Miliz Einfluss zu nehmen, aber <strong>an</strong> den org<strong>an</strong>isierten Aufbau einer Verwaltung<br />

war noch l<strong>an</strong>ge nicht zu denken. Es war eine Zeit, wo wir zwischen die Mühlsteine geraten<br />

waren. Die sowjetischen Militärs wollten so weitermachen wie bisher, die polnische Miliz wollte sich<br />

aber auch zunehmend behaupten. So kam es häufig zu Reibereien, jedoch nicht zu Gewalttätigkeiten.<br />

Es wurde gelegentlich auch geschossen, aber in die Luft. Die Leidtragenden waren wir Deutschen.<br />

Was die Russen uns gelassen hatten, wollten uns jetzt die polnischen Milizionäre wegnehmen.<br />

Dabei galt uns gegenüber: Was die Deutschen sechs Jahre l<strong>an</strong>g mit uns gemacht haben,<br />

sollt Ihr jetzt spüren. Die Milizionäre waren meist junge Leute <strong>aus</strong> Zentralpolen, die mit Sicherheit<br />

in der Zeit der deutschen Besetzung sehr gelitten hatten <strong>und</strong> da entwickeln sich, nachvollziehbar,<br />

Rachegefühle. Später kamen Polen auch vereinzelt in kleinen Gruppen, <strong>aus</strong> dem tieferen Polen,<br />

die auch noch Gewinner der Nachkriegssituation werden wollten. Viel war nicht mehr zu finden, sie<br />

hatten sich ohnehin hauptsächlich auf Leder orientiert. Schwerpunkt waren Reste von Pferdege-<br />

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