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Erinnerungen an Kindheit, Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen

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Lebenserinnerungen H<strong>an</strong>s-Siegfried Marks, Albrecht Dürer Str. 18, 06217 Merseburg, Tel. 03461-212739<br />

Unsere kleine Grenzstadt<br />

Viele Ortsnamen im östlichen <strong>Ostpreußen</strong> waren litauischen Ursprungs. Das traf ebenfalls auf Familiennamen<br />

zu. 1938 wurden die meisten Ortsnamen eingedeutscht. Aus Eydtkuhnen wurde<br />

Eydtkau. Die Kreisstadt Stallupönen hieß d<strong>an</strong>n Ebenrode, <strong>aus</strong> Pillupönen wurde Schloßbach <strong>und</strong><br />

so weiter.<br />

Als die Rote Armee 1944/45 auf deutsches Gebiet vordr<strong>an</strong>g, bekam sie dadurch Probleme. Ihre<br />

Generalstabskarten waren allgemein sehr genau, sie enthielten aber noch nicht die neuen Ortsnamen<br />

<strong>und</strong> so fiel die Orientierung schwer.<br />

Unserer Stadt Eydtkau, direkt <strong>an</strong> der Litauischen Grenze gelegen, hatte bis zum 1. Weltkrieg fast<br />

internationale Bedeutung. Da Litauen ja zu Russl<strong>an</strong>d gehörte, lief der Warenverkehr <strong>aus</strong> Russl<strong>an</strong>d<br />

in erheblichem Umf<strong>an</strong>g über unsere Stadt, auch <strong>aus</strong> dem ostasiatischen Raum war vieles dabei.<br />

Der Warenverkehr war im Prinzip ein Warenumschlag, denn die Bahngleise hatten unterschiedliche<br />

Spurbreiten <strong>und</strong> endeten <strong>an</strong> der Grenze. Bei uns in Eydtkau beg<strong>an</strong>n damit die Hauptstrecke<br />

ins Deutsche Reich. Es war eine Blütezeit für Speditionen. Der Güterbahnhof hatte eine Größe fast<br />

wie das Territorium der Stadt.<br />

Am Beispiel des alljährlichen Imports von Gänsen lässt sich dies verdeutlichen. Zigt<strong>aus</strong>ende Gänse<br />

wurden jeweils im Herbst in geschlossenen Viehwagen <strong>an</strong>tr<strong>an</strong>sportiert, auf dem letzten Bahnhof<br />

in Litauen in Grenznähe entladen <strong>und</strong> von dort über die Grenze durch die g<strong>an</strong>ze Stadt zu unserem<br />

Güterbahnhof getrieben. Das Geschäft war ökonomisch so lukrativ, dass m<strong>an</strong> für die Zwischenversorgung<br />

dieses Federviehs eine so gen<strong>an</strong>nte Gänserampe baute. Das waren große betonierte Becken<br />

mit Aufk<strong>an</strong>tungen, die mit Wasser gefüllt werden konnten. Von dort wurde der Weitertr<strong>an</strong>sport<br />

ins Reich org<strong>an</strong>isiert. Für meine kindlichen Größeneinschätzungen erschien das g<strong>an</strong>ze unendlich.<br />

Dabei muss m<strong>an</strong> bedenken, dass die Anlage nur einmal im Jahr genutzt wurde.<br />

Als Litauen nach dem 1. Weltkrieg wieder seine Unabhängigkeit erl<strong>an</strong>gte, verlor das Speditionsgewerbe,<br />

die Gr<strong>und</strong>lage für die Beschäftigung vieler Menschen, <strong>an</strong> Bedeutung. Wir konnten aber<br />

in den Folgejahren vom so gen<strong>an</strong>nten kleinen Grenzverkehr profitieren. Die Grenze lag direkt am<br />

Ende unseres Marktplatzes. Eine kleine Holzbrücke war der direkte Grenzüberg<strong>an</strong>g, zwar mit<br />

Schlagbäumen auf beiden Seiten, die aber für die Fußgänger bedeutungslos waren. Insgesamt<br />

war die Grenze kaum bewacht. Als Fußgänger konnte m<strong>an</strong> überall über den kleinen Bach nach Litauen.<br />

Mit der so gen<strong>an</strong>nten Grenzkarte konnte m<strong>an</strong> zu jeder Zeit nach Litauen einkaufen gehen. Nur wenige<br />

Waren wurden mengenmäßig durch Zollbestimmungen begrenzt. Die Lebensmittel waren in<br />

Litauen wesentlich billiger als in Deutschl<strong>an</strong>d. Litauen war eigentlich ein reines Agrarl<strong>an</strong>d, durch<br />

Kleinbauernwirtschaft dominiert. Die Litauer kauften bei uns hauptsächlich technische Geräte bzw.<br />

Industrieartikel.<br />

Ich ging oft mit Mutter mit, hatte aber immer ein ängstliches Gefühl. Schon äußerlich nahm m<strong>an</strong> eine<br />

<strong>an</strong>dere Kultur wahr <strong>und</strong> irgendwie unterschieden sich die Menschen von uns, zumindest mir<br />

schien das so. Das g<strong>an</strong>ze endete 1940, als die Baltenländer wieder von der Sowjetunion <strong>an</strong>nektiert<br />

wurden.<br />

Zur Bevölkerung des L<strong>an</strong>des, insbesondere in den östlichen Regionen: In unserem Kreis erlag der<br />

Pest fast 95% der Bevölkerung. Es beg<strong>an</strong>n eine Verödung des L<strong>an</strong>des. Es wurde viel unternommen,<br />

um verstärkt Menschen <strong>aus</strong> <strong>an</strong>deren Gegenden <strong>an</strong>zusiedeln. Vor allem f<strong>an</strong>den <strong>aus</strong>geprägt<br />

viele vertriebene Salzburger hier eine neue Heimat. M<strong>an</strong> merkte es <strong>an</strong> den sehr häufig vorkommenden<br />

Namen mit der Endung „er“, z.B. Schattner, Geschw<strong>an</strong>dtner, Lottermoser, Oberpichler<br />

usw.<br />

Die zweite Namenshäufung kam <strong>aus</strong> dem Litauischen. Diese Namen endeten mit „at, keit, kis“.<br />

Beispiele: Rudat, Mertinkat, Poweleit, Patzkis. Diese hatten Vorfahren, die sich bei der Urbarmachung<br />

der Ländereien verdingt hatten <strong>und</strong> sich d<strong>an</strong>n dort <strong>an</strong>siedelten.<br />

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