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Erinnerungen an Kindheit, Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen

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Lebenserinnerungen H<strong>an</strong>s-Siegfried Marks, Albrecht Dürer Str. 18, 06217 Merseburg, Tel. 03461-212739<br />

Viele <strong>aus</strong>gewiesene Deutsche suchten ihre neue Heimat in <strong>Ostpreußen</strong>, <strong>an</strong>dere gingen nach Mitteldeutschl<strong>an</strong>d.<br />

Der L<strong>an</strong>derwerb in <strong>Ostpreußen</strong> war durch die zeitgleiche Auflösung von Staatsgütern<br />

begünstigt, in Mitteldeutschl<strong>an</strong>d aber kaum möglich. Die gesamte Verw<strong>an</strong>dtschaft meiner Frau<br />

Bärbel, mütterlicherseits, stammt auch <strong>aus</strong> der Region Bromberg <strong>und</strong> Mitteldeutschl<strong>an</strong>d wurde ihre<br />

neue Heimat.<br />

Die Polen waren eigentlich toler<strong>an</strong>t gegenüber den dort verbliebenen Deutschen. Mein Onkel mit<br />

Familie hatte keine Probleme, selbst zu der Zeit nicht, als die Wehrmacht 1939 Polen bereits <strong>an</strong>gegriffen<br />

hatte. Nach dem sogen<strong>an</strong>nten Polenfeldzug, also der Okkupation Polens, wurden die alten<br />

deutschen Gebiete wieder ins Reich eingegliedert <strong>und</strong> die dort vorher verbliebenen Deutschen<br />

wurden „Volksdeutsche“ gen<strong>an</strong>nt. Alle im Reich lebenden Deutschen waren „Reichsdeutsche“.<br />

1945 wurde mit den dort verbliebenen „Volksdeutschen“ hart ins Gericht geg<strong>an</strong>gen. Sie wurden für<br />

das bestraft, was das faschistische Deutschl<strong>an</strong>d den Polen von 1939 bis 1945 <strong>an</strong>get<strong>an</strong> hatte. Das<br />

betraf auch meine Verw<strong>an</strong>dten.<br />

Aber noch einmal zeitlich zurück. Es war im Herbst 1943, Vater wollte seinen Bruder Gustav besuchen,<br />

den er viele Jahre, eigentlich über 20 Jahre, nicht mehr gesehen hatte. Ich durfte mit. Für<br />

mich war das eine gar nicht erfassbare Entfernung vom Heimatort.<br />

Wir hatten in Thorn einen Umsteigeaufenthalt. Im Wartesaal setzte sich ein etwas älterer Wehrmachts<strong>an</strong>gehöriger<br />

zu uns <strong>an</strong> den Tisch. Er wollte sicher nicht allein sein oder suchte eine Unterhaltung.<br />

Es dauerte nicht l<strong>an</strong>ge, da kam ein Angehöriger der Militärpolizei <strong>und</strong> forderte ihn auf sich<br />

dorthin zu begeben, wo Wehrmachts<strong>an</strong>gehörige sich aufzuhalten haben. Da die Bahnhöfe damals<br />

immer verschiedene Aufenthalt- bzw. Warteräume entsprechend den Zugklassen hatten, war es<br />

einfach, Zivilreisende <strong>und</strong> Wehrmachts<strong>an</strong>gehörige zu trennen. Es gab objektive Gründe dafür. M<strong>an</strong><br />

witterte ja überall Spione. Wenn auch meist übertrieben, so gab es sie doch, auch in Wehrmachtsuniform.<br />

So wollte m<strong>an</strong> vermeiden, dass über Zivilisten Informationen weiter getragen wurden.<br />

Aus Eydtkau k<strong>an</strong>n ich mich <strong>an</strong> einen Fall erinnern, der Stadtgespräch war. Ein Feldwebel der Luftwaffe<br />

unterhielt sich im Wartesaal mit <strong>an</strong>deren Fronturlaubern, ebenfalls Angehörige der Luftwaffe,<br />

über die eigene Einheit <strong>und</strong> Einsatzgebiete. Er hatte Pech. Die Anwesenden waren <strong>aus</strong> der gen<strong>an</strong>nten<br />

Einheit, aber nichts stimmte überein <strong>und</strong> er wurde verhaftet. Für ihn war es das Todesurteil.<br />

Der Zielort unseres Verw<strong>an</strong>dtenbesuches, Lindenthal, polnisch Iwno, war nur wenige Kilometer<br />

von der Stadt Exin entfernt. Wir fuhren mit einem Bauern auf dem Pferdewagen mit, den Vater <strong>aus</strong>findig<br />

gemacht hatte. Kurz vor dem Dorf war der Friedhof <strong>und</strong> Vater wollte als erstes die Gräber<br />

der Eltern aufsuchen. So etwas hatte früher einen hohen Stellenwert. Und wie der Zufall es will, auf<br />

dem Friedhof trafen wir den Onkel Gustav, der sich gerade mit den Gräbern beschäftigte. Ob es<br />

einen Zusammenh<strong>an</strong>g mit unserem Besuch gab, weiß ich nicht. Für mich war es zwar ein fremder<br />

M<strong>an</strong>n, sehr direkt in seinem Ton <strong>und</strong> dem Auftreten, ich meinte aber Ähnlichkeiten mit meinem<br />

Onkel Rudolf, dem Grobi<strong>an</strong>, festzustellen.<br />

Das Dorf Lindenthal war noch so, wie Vater es <strong>aus</strong> der Verg<strong>an</strong>genheit k<strong>an</strong>nte. Es gab kein elektrisches<br />

Licht, nur Petroleumlampen <strong>und</strong> jedes Gr<strong>und</strong>stück hatte seinen eigenen Brunnen. Die<br />

Gr<strong>und</strong>stücke wurden von Deutschen bewirtschaftet, m<strong>an</strong> hatte die Polen enteignet. Sie waren jetzt<br />

Knecht <strong>und</strong> Magd, also billige Arbeitskräfte.<br />

Auch meine T<strong>an</strong>te Hulda war mit ihrer Familie nach Lindenthal zurückgekommen. Onkel Richard<br />

arbeitete bis dahin in Berlin bei Siemens, hatte ein Häuschen in Berlin gebaut <strong>und</strong> hatte ein sicheres<br />

Auskommen, allerdings eine körperlich sehr belastende Tätigkeit. Er wollte unbedingt zurück,<br />

trotz zu erwartender Entbehrungen <strong>und</strong> Niveauverlust. Heute würde ich sagen, ihn muss wohl der<br />

Teufel geritten haben. Aber so ist das m<strong>an</strong>chmal mit subjektiven Entscheidungen. Die Familie wurde<br />

nicht gefragt, ihr gegenüber eine Zumutung. „Er war jedenfalls wieder Bauer auf eigenem<br />

Gr<strong>und</strong> <strong>und</strong> eigener Scholle“. Es wäre noch zu erwähnen, dass sie das Gr<strong>und</strong>stück vom Deutschen<br />

Staat über einen Kredit zurückkaufen mussten.<br />

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