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Erinnerungen an Kindheit, Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen

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Lebenserinnerungen H<strong>an</strong>s-Siegfried Marks, Albrecht Dürer Str. 18, 06217 Merseburg, Tel. 03461-212739<br />

In ihrem Berufsleben suchte <strong>und</strong> f<strong>an</strong>d Gertrud stets Anerkennung. Sie war eine zielstrebige, fleißige<br />

junge Frau, der wiederholt bereits in jungen Jahren in verschieden Städten <strong>Ostpreußen</strong>s Filialen<br />

<strong>an</strong>vertraut wurden. Die letzte Filiale war in Posen. Von dort ging es im J<strong>an</strong>uar 1945 auf die<br />

noch einigermaßen org<strong>an</strong>isierte <strong>Flucht</strong> ins Reich, mit Ziel Rathenow/Havel. Dort erlebte sie das<br />

Kriegsende <strong>und</strong> es blieb ihr künftiger Wohnort.<br />

Der nächste war Erwin, geboren 1927. Er hatte, wie auch ich, gute h<strong>an</strong>dwerkliche Anlagen geerbt.<br />

Die Schule fiel ihm nicht leicht. Ich sehe ihn noch, als wäre es gestern gewesen, einen großen<br />

Umweg über die Felder machen, als er sich mit seinem „Durchfallerzeugnis“ nicht nach H<strong>aus</strong>e<br />

traute. Er wusste, was ihn zu H<strong>aus</strong>e erwartete, denn Vater war ja schnell beim Prügeln. Aber irgendwie<br />

ging das diesmal glimpflich ab.<br />

Vater besorgte ihm eine Lehre in der größten Tischlerei der Stadt. Es war sogar der Betrieb des<br />

Obermeisters, was unter den H<strong>an</strong>dwerksbetrieben schon bedeutsam war. Erwin ist im Juni geboren,<br />

die Lehre beg<strong>an</strong>n im Frühjahr 1941. Somit war er noch nicht 14 Jahre alt. Durch seine Anlagen<br />

entwickelte er sich zu einem guten H<strong>an</strong>dwerker, was im späteren beruflichen Leben von seinen<br />

Arbeitgebern stets <strong>aus</strong>genutzt wurde.<br />

Auch hier ein Beispiel, wie gr<strong>und</strong>sätzlich sich Dinge verändert haben. Wenn jem<strong>an</strong>d gestorben<br />

war, gehörte das Einsargen des Toten zur Aufgabe der Tischlerei, die den Sarg gestellt hat. Früher<br />

starb die Mehrzahl der Menschen im eigenen Bett bzw. zu H<strong>aus</strong>e. Also erfolgte auch das Einsargen<br />

vor Ort. Der Abtr<strong>an</strong>sport in die Leichenhalle gehörte dazu. Es fragte keiner nach dem Alter<br />

des Lehrlings, er musste früh begreifen, dass der Tod etwas Normales ist. Auch das Einsargen von<br />

Unfalltoten gehörte dazu.<br />

Charakterlich bedeutete ihm die Familie viel. Auch wenn wir Kinder alle zumutbare Pflichten im<br />

H<strong>aus</strong>halt hatten, eignete er sich viele zusätzliche Dinge <strong>an</strong> <strong>und</strong> übernahm sogar das Kochen,<br />

wenn Mutter auf dem Feld war. Ich hatte zu ihm eine besondere Beziehung. Wir hatten beide richtig<br />

rote Haare <strong>und</strong> ähnelten ein<strong>an</strong>der unverkennbar. Somit waren wir beide geschmähte Rotköpfe<br />

<strong>und</strong> wurden oft gehänselt.<br />

Erwin war in seiner Art sehr offen <strong>und</strong> kritisch, m<strong>an</strong>chmal zu seinem Nachteil. Er hatte ein <strong>aus</strong>geprägtes<br />

Gerechtigkeitsempfinden. Vielleicht war die Ursache dafür darin begründet, dass er von<br />

Vater zu oft <strong>und</strong> ungerechtfertigt verprügelt wurde.<br />

Im Dezember 1944 wurde er 17jährig zur Wehrmacht einberufen. Nach einer kurzen Ausbildung<br />

<strong>und</strong> zum Glück ohne wesentlichen Einsatz beendete er den Kriegsdienst mit einer P<strong>an</strong>zerf<strong>aus</strong>t auf<br />

der Schulter. Für <strong>an</strong>dere Waffen reichte es zum Kriegsende 1945 wohl nicht mehr. Nach englischer<br />

Gef<strong>an</strong>genschaft <strong>und</strong> baldiger Entlassung l<strong>an</strong>dete er im Raum Hamburg. Er verstarb 1989, schwer<br />

<strong>an</strong> Krebs erkr<strong>an</strong>kt. Es war sicher eine L<strong>an</strong>gzeitwirkung durch seinen Beruf.<br />

Zu meinem nächst älteren Bruder Helmut <strong>und</strong> seinen Kapriolen ließe sich fast ein eigenes Buch<br />

schreiben. Er war ein sehr verträglicher Junge, der nie jem<strong>an</strong>dem körperlich wehtun konnte. Allerdings<br />

ers<strong>an</strong>n er immer wieder Neues, um <strong>aus</strong> dem Normalen <strong>aus</strong>zubrechen. Seine s<strong>an</strong>fte Überzeugungsart<br />

war für ihn meist von Erfolg gekrönt. Bei seinen Mitschülern war er beliebt, zumal er<br />

für Überraschungen immer gut war.<br />

Helmut ist im J<strong>an</strong>uar 1929 geboren, wir liegen somit 1 ¾ Jahre <strong>aus</strong>ein<strong>an</strong>der. Wie oft wir unterein<strong>an</strong>der<br />

den Beweis <strong>an</strong>stellen wollten, wer der Stärkere ist, lässt sich kaum zählen. Es waren keine<br />

Schlägereien damit verb<strong>und</strong>en, sondern vielmehr eine Art Ringkampf mit dem Ziel, den <strong>an</strong>deren<br />

auf dem Rücken unter sich zu kriegen <strong>und</strong> mit Muskelreiten den Kampf als Sieger zu beenden.<br />

Muskelreiten hieß, den <strong>an</strong>deren mit den eigenen Knien die Oberarmmuskeln so l<strong>an</strong>ge zu walken,<br />

bis er sich als Verlierer bek<strong>an</strong>nte. Es tat durch<strong>aus</strong> weh <strong>und</strong> provozierte einen baldigen neuen Beweiskampf.<br />

Meist endete das G<strong>an</strong>ze mit den Worten: „Siehst du nun, wer der Stärkere ist!“. Für<br />

mich als häufigen Gewinner war das immer eine Genugtuung.<br />

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