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Erinnerungen an Kindheit, Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen

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Lebenserinnerungen H<strong>an</strong>s-Siegfried Marks, Albrecht Dürer Str. 18, 06217 Merseburg, Tel. 03461-212739<br />

ßen <strong>an</strong>, dass m<strong>an</strong> das Gefühl hatte, <strong>an</strong> jedem Fuß zwei große Zehen zu haben. Ein Arzt wurde<br />

wegen so einer Sache selten aufgesucht, er hätte ohnehin kaum etwas <strong>aus</strong>richten können. Letztlich<br />

gab es dafür H<strong>aus</strong>mittel. Erste Empfehlung: mit Petroleum einstreichen. Und wenn das nicht<br />

hilft, galt Empfehlung zwei: M<strong>an</strong> besorge sich Gallflüssigkeit von einem Schwein oder Rind <strong>und</strong><br />

bepinsele damit die erfrorenen Bereiche.<br />

Heute lacht m<strong>an</strong> sicher darüber, aber m<strong>an</strong> glaubte mit Sicherheit, dass so etwas wirkt! Ob es tatsächlich<br />

geholfen hat, ist zu bezweifeln. Nach Wochen bzw. Monaten sahen die Zehen wieder<br />

normal <strong>aus</strong>; doch das Kribbeln hielt sehr l<strong>an</strong>ge <strong>an</strong>. Dafür gab es auch eine Begründung: Wenn eine<br />

W<strong>und</strong>e kribbelt, ist das der Beweis, dass sie heilt!<br />

Später hat es mich noch ein zweites Mal erwischt! Ich musste einmal bei frostigen Bedingungen<br />

<strong>aus</strong> der warmen Wohnung hin<strong>aus</strong> zum „großen Geschäft“ aufs Plumpsklo. Ich setzte natürlich für<br />

diese kurze Zeit keine Mütze auf. Als ich wieder hoch in die Wohnung kam, guckte mich Mutter erschreckt<br />

<strong>an</strong> <strong>und</strong> sagte: „Du hast Dir das linke Ohr abgefroren, fass es nicht <strong>an</strong>, sonst bricht es ab!“<br />

M<strong>an</strong> erkennt das dar<strong>an</strong>, dass das Ohr im erfrorenen Bereich schneeweiß ist. Als H<strong>aus</strong>mittel galt<br />

bei Erfrierungen immer, die Stelle s<strong>an</strong>ft mit Schnee einzureiben bis alles aufgetaut ist. Für mich<br />

war dies aber zu spät. Das Ohr war zu schnell aufgetaut, Schnee war ohnehin nicht unmittelbar<br />

vorh<strong>an</strong>den, es wurde knallrot <strong>und</strong> dampfte richtig. Da das Ohr sofort <strong>an</strong>schwoll, hieß es nur, jetzt<br />

hast du ein Schweinsohr, du bist selbst dar<strong>an</strong> schuld.<br />

An dieser Stelle möchte ich noch einige Wort zu unserem „Angeziehe“ bei diesen Bedingungen erzählen.<br />

Das war damals so unvorstellbar <strong>an</strong>ders als heute. L<strong>an</strong>ge Hosen wurden nicht getragen.<br />

Es gab auch nur die Uniformhose vom Jungvolk, eine Art Überfallhose. Mit dem Kälterwerden wurden<br />

l<strong>an</strong>ge Strümpfe <strong>an</strong>gezogen. Farbe allgemein hellbraun, Struktur vergleichbar mit Feinripp. Die<br />

Strümpfe wurden oben mit einem Gummib<strong>an</strong>d <strong>und</strong> Knopf am Rutschen gehindert. Das Gummib<strong>an</strong>d<br />

war <strong>an</strong> einem „Leibchen“ befestigt. Das war so eine Art leichte Leinenweste, die noch zusätzlich<br />

etwas wärmte. Gingen die Temperaturen in die tiefen Minusgrade, gab’s die dicke Unterhose,<br />

echt dick <strong>und</strong> immer fl<strong>aus</strong>chig. Es war eine Einheit von Hosenbein bis Oberteil mit l<strong>an</strong>gen Ärmeln.<br />

Für die Erledigung des „kleinen Geschäfts“ gab es vorn einen Schlitz mit Knöpfen <strong>und</strong> für das<br />

„große Geschäft“ hinten eine Klappe, die mit zwei Knöpfen oben befestigt wurde. M<strong>an</strong> hatte schon<br />

so seinen Spaß bei der Notdurft <strong>und</strong> trampelte lieber von einem Bein auf das <strong>an</strong>dere, um möglichst<br />

nicht bei Kälte alles entblößen zu müssen. Wenn die dicke Unterhose getragen wurde, entfiel das<br />

Leibchen für das Gummib<strong>an</strong>d, der erforderliche Knopf war <strong>an</strong> der Hose. Gr<strong>und</strong>sätzlich gab es nur<br />

die kurze Hose, wie im Sommer.<br />

Eine kleine Anmerkung zu diesen l<strong>an</strong>gen Unterhosen, eigentlich ja ein G<strong>an</strong>zkörperkleidungsstück,<br />

sollte noch gemacht werden. Zugeknöpft wurde das G<strong>an</strong>ze auf dem Rücken, unpraktischer konnte<br />

es gar nicht sein. Mit akrobatischem Geschick versuchte m<strong>an</strong> alle Knöpfe zu erwischen, das gel<strong>an</strong>g<br />

aber nicht immer.<br />

Da ich umfassend die Wintererlebnisse mit allen Nebeneffekten geschildert habe, will ich noch auf<br />

Weihnachten eingehen. Weihnachten wurde traditionell <strong>und</strong> christlich als Fest in Familie gefeiert.<br />

Der Heiligabend lief etwa wie folgt ab: Vater befestigte den T<strong>an</strong>nenbaum in einem Ständer. Der<br />

Baum konnte nur begrenzt hoch sein, denn er wurde auf den Tisch gestellt. Unter dem Baum auf<br />

dem Tisch st<strong>an</strong>d für jeden ein kleiner Teller mit Geschenken darauf. Das waren meist zwei kleine<br />

Tiere <strong>aus</strong> Gips-Pappmaché. Dar<strong>aus</strong> lässt sich schließen, dass wir keinen Weihnachtsm<strong>an</strong>n<br />

brauchten. Er hätte beim Suchen der Geschenke im großen Sack gegebenenfalls die Tierchen<br />

noch zerbrochen. Übrigens durften wir erst in die festliche Stube hinein, wenn alles hergerichtet<br />

<strong>und</strong> die Kerzen <strong>an</strong>gezündet waren. Aus der Bibel wurde die Weihnachtsgeschichte vorgetragen<br />

<strong>und</strong> wir s<strong>an</strong>gen voller Andacht kirchliche Weihnachtslieder. Es war richtig schön; immer wieder ein<br />

Erlebnis <strong>und</strong> ich hatte nie das Gefühl, hinsichtlich der Geschenke zu kurz gekommen zu sein.<br />

Mit weiteren Abenteuern ging der Winter vorbei <strong>und</strong> mit dem Frühjahr kam auch die Erlösung von<br />

unserem winterlichen „Angeziehe“. Lieber etwas frieren, aber das dicke Unterzeug weg; die l<strong>an</strong>gen<br />

Strümpfe mussten reichen. D<strong>an</strong>n gab es noch so einen Kult. Ostern, egal w<strong>an</strong>n die Tage kalenderbedingt<br />

lagen, wollten wir mit Kniestrümpfen gehen. Oft erlaubte Mutter das nicht. Waren wir außer<br />

Sichtweite der Wohnung, wurden die Strümpfe runter gerollt bis eine H<strong>an</strong>dbreit unters Knie. Das<br />

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