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Erinnerungen an Kindheit, Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen

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schirren, Treibriemen u. Ä. Wir prägten d<strong>an</strong>n auch den Namen „Lederpolen“. Direkt bestohlen haben<br />

sie uns aber nicht.<br />

Da sich die Situation insgesamt l<strong>an</strong>gsam entsp<strong>an</strong>nte, konnten wir uns auch von der bisherigen<br />

Gr<strong>und</strong>haltung - Wir leben nur für den heutigen Tag - umstellen <strong>und</strong> <strong>an</strong> „Morgen“ denken. Das hieß,<br />

dass wir u. a. Kartoffeln in die Erde bringen mussten, um uns später <strong>aus</strong>reichend versorgen zu<br />

können. Getreide war noch im Herbst 1944 in üblicher Menge von den Bauern gesät worden, so<br />

dass wir in dieser Hinsicht optimistisch <strong>an</strong> die Ernte denken konnten. Ende Mai bereiteten wir die<br />

Fläche von etwa einen „Morgen“ für die Pfl<strong>an</strong>zung der Kartoffeln vor. Diese Größenbezeichnung<br />

war früher üblich. Vier Morgen sind ein Hektar. Da die Äcker im Herbst 1944 noch gepflügt worden<br />

sind für die Frühjahrsbestellung 1945, mussten wir nur den Boden mit einer Egge auflockern. Das<br />

wird üblicherweise mit Pferden gemacht <strong>und</strong> verl<strong>an</strong>gt eine relativ große Kraft<strong>an</strong>strengung. Helmut<br />

<strong>und</strong> ich spielten Pferd, nutzten aber nur ein Eggenelement. Wir schindeten wie Leibeigene, der Unterschied<br />

war aber, dass es um unser Überleben ging. Das Legen der Kartoffeln erforderte einen<br />

sehr hohen Zeitaufw<strong>an</strong>d, denn für jede Kartoffel musste mit dem Spaten ein Loch gemacht werden.<br />

Auch das spätere erforderliche Anhäufeln war bei dieser großen Ackerfläche sehr zeitraubend, aber<br />

wir hatten ja diese Zeit.<br />

Wie verliefen die weiteren Sommermonate 1945? Die Sowjets betrachteten alles Verwertbare als<br />

Kriegsbeute, um es d<strong>an</strong>n in die Sowjetunion abtr<strong>an</strong>sportieren zu können. So wurden wieder neue<br />

Komm<strong>an</strong>dos aktiv, die sich hauptsächlich auf l<strong>an</strong>dwirtschaftliche Maschinen <strong>und</strong> Geräte orientierten.<br />

Selbst Sensen, Harken <strong>und</strong> ähnliches Gerät wurde gesucht <strong>und</strong> zählte zum Beutegut. Die Ironie<br />

dieser Aktion war allerdings, dass Vieles vorher als kapitalistisch geprägt, demoliert <strong>und</strong> zerschlagen<br />

worden war. Jetzt versuchte m<strong>an</strong> den verbliebenen Rest zusammenzutragen. In dieses<br />

Vorhaben waren auch komplette Demontagen von Fabrik<strong>an</strong>legen einbezogen. So passierte das<br />

auch mit einer Spinnerei in L<strong>an</strong>dsberg, wo die leeren Fabrikhallen später durch die Polen <strong>an</strong>ders<br />

genutzt wurden.<br />

Der Bahnhof von L<strong>an</strong>dsberg war auch eine Sammelstelle für die Vorbereitung dieser Tr<strong>an</strong>sporte.<br />

Ausgeführt wurden die Verladearbeiten von deutschen Kriegsgef<strong>an</strong>genen. Verladetechnik gab es<br />

nicht. Es war alles schwere körperliche Arbeit, wenn m<strong>an</strong> berücksichtigt, dass z. B. Dreschmaschinen<br />

ein enormes Gewicht hatten. Vorher musste noch eine gesprengte Brücke, kurz vor dem<br />

Bahnhof, befahrbar gemacht werden. Das erfolgte auch ohne jedes technische Hilfsmittel. Über<br />

das gesprengte bzw. fehlende Stück wurde eine Vielzahl von Schienen gelegt <strong>und</strong> von unten mit<br />

Baumstämmen abgestützt. Der Zug fuhr d<strong>an</strong>n im Schritttempo drüber <strong>und</strong> die Verladung konnte<br />

beginnen. Wir konnten alles von unserem Berg <strong>aus</strong> beobachten, auch, als eine Dreschmaschine<br />

beim Verladen abstürzte, deren Trümmer wir später besichtigen konnten. Nach Abschluss dieser<br />

Aktion wurden alle Gleise aufgenommen. Ein d<strong>an</strong>kbares Beutegut. M<strong>an</strong> hat den Polen nichts gelassen,<br />

sie mussten die Strecke d<strong>an</strong>n später neu aufbauen.<br />

Mit einzelnen Episoden, ohne zeitliche Einordnung, will ich die damalige Situation aufzeigen.<br />

M<strong>an</strong>chmal musste m<strong>an</strong> schon schmunzeln. Wir hatten wieder einmal neuen Kontakt mit einem älteren<br />

Ehepaar, das uns stolz einen besonderen F<strong>und</strong> präsentierte. Sie hätten einen großen Packen<br />

Zucker gef<strong>und</strong>en, in Pressform <strong>und</strong> die Einzelstücke so groß wie Riegelseife. Die Farbe war<br />

tiefbraun <strong>und</strong> merkwürdigerweise hatte alle Stücke <strong>an</strong> gleicher Stelle ein kleines Loch. Auf die Frage<br />

woher sie das hätten <strong>und</strong> wie sie darauf kämen, dass es Zucker sei, kam folgende Antwort: „Wir<br />

haben das auf einem Acker gef<strong>und</strong>en, erst dachten wir es wäre Seife. Da es beim Lecken süß<br />

schmeckte, muss es Zucker sein. Die Stücken waren natürlich nass. Zum Trocknen haben wir sie<br />

auf den Herd gelegt.“ Herd heißt gr<strong>und</strong>sätzlich Feuerherd. Die Temperaturen können je nach Feuerung<br />

mehrere h<strong>und</strong>ert Grad erreichen. Wir k<strong>an</strong>nten uns mit solchen Dingen besser <strong>aus</strong> <strong>und</strong> mussten<br />

d<strong>an</strong>n den alten Leuten bewusst machen, dass es sich um eine Art Sprengstoff h<strong>an</strong>delte <strong>und</strong> sie<br />

sich in eine lebensgefährliche Situation gebracht hatten.<br />

Ein <strong>an</strong>deres Beispiel im Umg<strong>an</strong>g mit Sprengmitteln <strong>und</strong> Munition. Nicht allzu weit weg von uns, direkt<br />

hinter dem Bahndamm <strong>und</strong> der vorher erwähnten gesprengten Brücke, war ein Gehöft, alle<br />

Gebäude waren noch intakt. Es war bewohnt von einem älteren Ehepaar, die auch Eigentümer waren<br />

<strong>und</strong> nach der <strong>Flucht</strong> in ihr Anwesen zurückgekommen waren. In der Scheune hatte die Wehrmacht<br />

eine große Menge Munition eingelagert. Es waren Gr<strong>an</strong>aten der schweren Flak, Kaliber 8,8<br />

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