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Erinnerungen an Kindheit, Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen

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gen klammerte er uns sechs vollkommen <strong>aus</strong>. Am Tag der Konfirmation trugen die Einheimischen<br />

die erforderliche Kleidung, ordentliche Schuhe <strong>und</strong> waren alle gut <strong>an</strong>zusehen. Die Mehrzahl hatte<br />

eine Krawatte <strong>an</strong>gelegt, was bei uns zu H<strong>aus</strong>e nicht typisch war. Wir trugen meist den Hemdkragen<br />

nach außen gestülpt. Was hatte ich? Als wir uns im J<strong>an</strong>uar 1945 auf die <strong>Flucht</strong> begaben, hatte<br />

ich ja mehrere Hemden untergezogen <strong>und</strong> der Konfirmations<strong>an</strong>zug von meinem Bruder Helmut, er<br />

wurde 1943 konfirmiert, gehörte auch zu meinem „Angeziehe“. Die Hosenbeine waren damals zu<br />

l<strong>an</strong>g, jetzt passte der Anzug im Wesentlichen.<br />

Wie Mutter den Anzug wieder <strong>an</strong>sehnlich machte, war <strong>an</strong>erkennenswert. Allgemein verwendete<br />

m<strong>an</strong> früher schwarzen Kaffee <strong>und</strong> mit einem geliehenen Bügeleisen hatte sie wieder alles hinbekommen.<br />

Ich unterschied mich kaum von den einheimischen Jungs. Mit den Schuhen klappte das<br />

nicht g<strong>an</strong>z so. Mutters Schuhe, Halbschuhe mit einem breiten Absatz, mussten herhalten <strong>und</strong> auch<br />

damit fiel ich nicht auf. Anders war das bei den <strong>an</strong>deren fünf „Notkonfirm<strong>an</strong>den“, einer hatte sogar<br />

nur Holzschuhe.<br />

Der Tag der Konfirmation ist eigentlich ein besonderer Tag im Leben eines jungen Menschen, im<br />

Prinzip ein Festtag, <strong>an</strong> den m<strong>an</strong> sich auch später gerne noch erinnern möchte. Ich erinnere mich<br />

noch dar<strong>an</strong>, dass wir uns <strong>an</strong> diesem Tag einmal richtig satt essen wollten. Da es zusätzlich für diesen<br />

Tag nichts gab, musste das vorher „abgehungert“ werden. Das klappte auch <strong>und</strong> Mutter machte<br />

eine große Schüssel Kartoffelsalat, eigentlich best<strong>an</strong>d der nur <strong>aus</strong> Kartoffeln, kaum etwas <strong>an</strong>deres<br />

drin. Die Masse sollte es bringen. Ich aß <strong>und</strong> aß <strong>und</strong> wurde nicht satt. Der Bauch war voll, so<br />

dass ich mich vom Stuhl gleich rücklings auf das Bett legte. Von einem Sättigungsgefühl war keine<br />

Spur, die Masse allein tut’s eben nicht.<br />

Der Winter 1946/47 war extrem kalt, selbst für den mitteldeutschen Raum <strong>und</strong> er dauerte auch l<strong>an</strong>ge<br />

<strong>an</strong>. Eines Tages im März erhielt ich eine schriftliche Aufforderung, mich bei der Deutschen<br />

Reichsbahn zum Schneeschippen zu melden. Es gab immer wieder schwere Schneefälle <strong>und</strong><br />

Verwehungen, die Gleise mussten von H<strong>an</strong>d frei gehalten werden. Arbeitskleidung oder Wärmeschutzkleidung<br />

wurden nicht zur Verfügung gestellt. Wir mussten unsere eigenen, für uns einzigen<br />

Sachen tragen. Diese Einsätze endeten im späten April, wir wurden aber tariflich entlohnt.<br />

Noch einige Beispiele zu unserer Versorgung bzw. zu den Hungermahlzeiten: Um überhaupt ein<br />

bisschen mehr in den Magen zu bekommen, wurden die Kartoffeln auf einem Reibeeisen gerieben<br />

<strong>und</strong> mit Salz, aber ohne weitere Zutaten gekocht. Diese sämige Masse n<strong>an</strong>nten wir „Kartoffelschlunz“.<br />

Kalt werden durfte das nicht, d<strong>an</strong>n war das nur noch Wasser mit kaum spürbaren Kartoffelflocken.<br />

Ordentlich gekochte Kartoffeln oder Tellergerichte gab es nie. Übrigens: Die Kartoffelreibe<br />

hatte ich <strong>aus</strong> einem Stück Blech selbst <strong>an</strong>gefertigt. Mit einem Nagel schlug ich Löcher in das<br />

Blech <strong>und</strong> der Grat übernahm die Reibefunktion. Wir hatten sie l<strong>an</strong>ge in Gebrauch. Die <strong>an</strong>fallenden<br />

dünnen Kartoffelschalen wurden auf der Herdplatte getrocknet <strong>und</strong> leicht geröstet, auch sie wurden<br />

gegessen <strong>und</strong> schmeckten „scheußlich“.<br />

Obwohl das Mittagessen für alle gemeinsam gekocht <strong>und</strong> verzehrt wurde, gab es für die <strong>an</strong>deren<br />

Mahlzeiten eine <strong>an</strong>dere Regelung. Umstritten war eigentlich nur die zu be<strong>an</strong>spruchende persönliche<br />

Menge des Brotes. Jeder meinte wohl, die wenigen Scheiben des Anderen wären dicker oder<br />

m<strong>an</strong> hätte heimlich eine Scheibe zusätzlich für sich abgeschnitten. Die Lösung war, dass jeder<br />

sein Brot selbst verwaltete, das verl<strong>an</strong>gte aber eine <strong>aus</strong>geprägte Selbstdisziplin. Von einem Kind in<br />

Werners Alter war diese nicht zu erwarten, aber wir hatten es gemeinsam so entschieden. Also<br />

wurden drei Brote gekauft <strong>und</strong> gekennzeichnet. D<strong>an</strong>n wurden die Scheiben eingekerbt <strong>und</strong> nach<br />

jeder vierten Scheibe gab es eine große Kerbe. Das war der Tagessatz. Mit meiner Selbstdisziplin<br />

klappte es, ich kam mit den vier Scheiben zurecht. Nicht so Werner, er hatte mit reichlich acht Jahren<br />

seine Probleme. Mutter gab ihm aber auch nichts von sich ab. Vielleicht hätten sich <strong>an</strong>dere<br />

Mütter besser in die Lage eines Kindes hineinversetzen können.<br />

Die Situation verbesserte sich d<strong>an</strong>n mit dem her<strong>an</strong>nahenden Frühling. Durch den sehr l<strong>an</strong>gen Winter<br />

setzte 1947 die Vegetation im Frühling sehr spät ein. Von den wild wachsenden Unkrautpfl<strong>an</strong>zen<br />

wuchs die Melde am schnellsten. Sie hatte zarte Blätter <strong>und</strong> Stengel wie Spinat <strong>und</strong> es gab sie<br />

fast überall. Fast täglich gab es d<strong>an</strong>n diesen „Spinat“, aber kaum etwas dazu. Als Kind war Spinatessen<br />

eine Strafe, fast ein Brechmittel, von mir nur „Kooschiet“ (Kuhscheiße) gen<strong>an</strong>nt.<br />

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