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Erinnerungen an Kindheit, Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen

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Lebenserinnerungen H<strong>an</strong>s-Siegfried Marks, Albrecht Dürer Str. 18, 06217 Merseburg, Tel. 03461-212739<br />

Alle Telefonapparate aller Schr<strong>an</strong>kenwärter <strong>und</strong> der Blockstelle waren parallel geschaltet, so dass<br />

jeder jedes Gespräch mithören konnte. Das war praktisch <strong>und</strong> so gewollt. Wenn z.B. eine Zugmeldung<br />

oder <strong>an</strong>deres vom Ausg<strong>an</strong>gsbahnhof <strong>an</strong> alle Schr<strong>an</strong>kenwärter durchgegeben wurde, d<strong>an</strong>n<br />

läutete es bei allen zeitgleich <strong>und</strong> alle erhielten auch zeitgleich die Meldung. Da die Gespräche<br />

m<strong>an</strong>chmal privaten Inhalt hatten, wurden sie nicht registriert <strong>und</strong> ein kleiner Scherz war üblich. Es<br />

meldete sich bei einem fingierten Anruf auch die Blockstelle. „Peschicken Sturm“ hieß es. Was, in<br />

Peschicken ist Sturm? Bei uns ist es windstill <strong>und</strong> von einer Sturmwarnung ist uns nichts bek<strong>an</strong>nt.<br />

Das ging so ein Weilchen <strong>und</strong> als „geborener Eisenbahner“ st<strong>an</strong>d er immer stramm am Diensttelefon,<br />

sagte m<strong>an</strong> ihm nach. Alle <strong>an</strong>deren Teilnehmer amüsierten sich <strong>und</strong> so etwas war d<strong>an</strong>n auch<br />

bald Stadtgespräch, da sich die meisten Eisenbahner unterein<strong>an</strong>der k<strong>an</strong>nten. Ich lernte den alten,<br />

eigentlich gemütlichen Herrn selbst kennen. Es war aber schon nach der Evakuierung <strong>aus</strong> unserem<br />

Heimatort.<br />

Aber zurück zur Blockstelle. Eine Blockstelle hat die Funktion eine enge Zugfolge zu ermöglichen.<br />

Hier waren es ca. 6 Kilometer zwischen zwei Bahnhöfen. Es gab eine Signal<strong>an</strong>lage für beide Richtungen.<br />

Ein Signal konnte nur geöffnet werden, wenn der durchgefahrene Zug den Folgebahnhof<br />

für diesen Abschnitt erreicht hatte <strong>und</strong> das Einfahrtsignal dort geschlossen wurde. Bis dahin war<br />

das Signal <strong>an</strong> der Blockstelle geschlossen <strong>und</strong> „blockiert“ <strong>und</strong> der Streckenabschnitt konnte nicht<br />

befahren werden. Der Folgezug musste vor dem Signal stehen bleiben. Das G<strong>an</strong>ze lief elektromech<strong>an</strong>isch<br />

ab. Wenn die Strecke freigegeben wurde, wurde das Signal von H<strong>an</strong>d betätigt, d.h. mittels<br />

Hebel, Stahlseilen, Umlenkrollen u. ä. Trotz Ausgleichsgewichten ging das relativ schwer.<br />

Vater musste über einige Monate dort Dienst tun, da einer der dort wohnenden Blockwärter einen<br />

schweren Unfall hatte. Für Vater war das eine recht <strong>an</strong>genehme Tätigkeit in einer 12-St<strong>und</strong>en-<br />

Schicht. Ich konnte ihn oft besuchen <strong>und</strong> fuhr mit dem Damenfahrrad meiner Schwester Gertrud<br />

dorthin. Sie fuhr ohnehin kaum mit dem Fahrrad, aber entsprechend ihrer Stellung in der Familie<br />

musste sie eins haben. Zu der Zeit war eine „Vollballonbereifung“ üblich. Die hatte zwar eine bessere<br />

Federwirkung, fuhr sich aber recht schwer. Wenn ich das Rad benutzte, musste ich über die<br />

gesamte Strecke, 6 Kilometer, stehend auf den Pedalen fahren. Ich reichte einfach nicht auf den<br />

Sattel.<br />

Zugmeldungen auf der Blockstelle vollzogen sich damals gr<strong>und</strong>sätzlich über die Morsetechnik. Das<br />

Morsealphabet basiert nur auf einem Punkt-Strich-System für alle Buchstaben <strong>und</strong> Zahlen. Die<br />

Morseapparate hatten sich wohl seit ihrer Erfindung kaum weiterentwickelt. Es waren richtige, aber<br />

störungsfrei arbeitende Monster, die auf der Basis von Stromstößen bzw. Elektromagneten arbeiteten.<br />

Es gab einen Trick wenn m<strong>an</strong> mit dem Gerät schreiben wollte, ohne dass es ins Netz ging.<br />

Das habe ich <strong>aus</strong>gekostet <strong>und</strong> auf diese Art sogar das Morsealphabet erlernt. Das ging so: M<strong>an</strong><br />

löste die Impulse nicht über den Bedienhebel <strong>aus</strong>, sondern gab sie über eine Magnetbrücke nur<br />

auf das eigene Gerät. Der individuell geschriebene Text wurde d<strong>an</strong>n später <strong>aus</strong> dem beschriebenen<br />

Papierb<strong>an</strong>d her<strong>aus</strong>gerissen <strong>und</strong> das B<strong>an</strong>d ohne zu kleben wieder zusammengewickelt. So ein<br />

B<strong>an</strong>d hatte die Breite von Papierschl<strong>an</strong>gen, wie m<strong>an</strong> sie heute zur Dekoration verwendet. Die beschriebenen<br />

Bänder der Blockstelle wurden zentral archiviert.<br />

Es gab noch eine Besonderheit. Eine Blockstelle wurde meist <strong>an</strong> einem Straßenüberg<strong>an</strong>g gebaut.<br />

Dadurch konnte die Bahnschr<strong>an</strong>ke vom Blockwärter betätigt werden. So sparte m<strong>an</strong> einen Schr<strong>an</strong>kenwärter<br />

ein. Früher wurden die Schr<strong>an</strong>ken erst bei Sichtweite des Zuges geschlossen. Wenn ich<br />

mich auf der Blockstelle aufhielt, durfte ich die Schr<strong>an</strong>ke betätigen. Allerdings musste ich mich so<br />

verhalten, dass ich nicht gesehen werden konnte.<br />

Einmal habe ich es verpasst die Schr<strong>an</strong>ke zu schließen <strong>und</strong> Vater in eine missliche Lage gebracht.<br />

Der Zugführer war verpflichtet, Meldung zu machen. Zum Glück war niem<strong>an</strong>d auf der Straße bzw.<br />

überquerte den Bahnüberg<strong>an</strong>g. Allgemein waren es sowieso nur wenige Pferdefuhrwerke, die die<br />

Straße benutzten. Für den Tr<strong>an</strong>sport von irgendwelchen Gütern gab es damals kaum Motorfahrzeuge<br />

<strong>und</strong> für die Personenbeförderung nur wenige Buslinien. Wenn m<strong>an</strong> in die Stadt wollte, fuhr<br />

m<strong>an</strong> meist mit dem „Milchwagen“ mit, der die frische Milch des g<strong>an</strong>zen Dorfes in die nächste Molkerei<br />

fuhr. Dem jeweiligen Kutscher war das nicht un<strong>an</strong>genehm. Er hatte jem<strong>an</strong>den, mit dem er<br />

sich unterhalten konnte.<br />

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