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Erinnerungen an Kindheit, Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen

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noch etwas zu finden. Um nicht irgendwelchen Russen in die Arme zu laufen, war stets Vorsicht<br />

geboten. Auch versuchten wir festzustellen, ob es in der Nähe noch <strong>an</strong>dere Deutsche gab. M<strong>an</strong><br />

musste nur nach rauchenden Schornsteinen Ausschau halten <strong>und</strong> beobachten, dass sich dort keine<br />

Russen einquartiert hatten. Die Mehrzahl der Deutschen lebte wie wir vorzugsweise auf dem<br />

Abbau <strong>und</strong> abseits von genutzten Straßen. Erst später, als einige Dorfbewohner nach der <strong>Flucht</strong> in<br />

ihre Häuser zurückkehrten, wurden auch wieder Häuser im geschlossenen Dorf bewohnt.<br />

Es war bereits Anf<strong>an</strong>g April 1945. Die sowjetischen Militäreinheiten wurden immer weniger <strong>und</strong><br />

konzentrierten sich auf größere Orte. Es waren vorwiegend Einheiten für besondere Aufgaben.<br />

Dazu gehörten auch Komm<strong>an</strong>dos des NKWD, also des sowjetischen Geheimdienstes. Sie hatten<br />

unberechenbare <strong>und</strong> umfassende Vollmachten <strong>und</strong> zeichnete sich durch kompromissloses Verhalten<br />

<strong>aus</strong>. Das galt auch für die eigenen sowjetischen Militär<strong>an</strong>gehörigen. Hier war deren Aufgabe<br />

hauptsächlich, Deutsche aufzustöbern, die im Dritten Reich irgendwie politisch aktiv waren oder<br />

der Hitlerpartei NSDAP <strong>an</strong>gehört hatten. Die so zusammengetriebenen Menschen wurden in unmenschlichen<br />

Verhören zu Geständnissen gezwungen, welche d<strong>an</strong>n <strong>aus</strong>reichten, um sie in die<br />

Sowjetunion zu verschleppen. Wenn die Vorgabezahlen für einen Tr<strong>an</strong>sport nicht <strong>aus</strong>reichten,<br />

wurden auch unbescholtene Deutsche im passenden Alter formal zum Nazi gemacht.<br />

Ich erinnere mich, wie einmal Monate später eine Gruppe Frauen auf der Straße von Hoofe nach<br />

L<strong>an</strong>dsberg abgeführt wurde <strong>und</strong> <strong>an</strong> einem bewohnten Gr<strong>und</strong>stück Rast machte. Die dort Wohnenden<br />

hatten gerade zuckerhaltige Rüben gekocht, um den Saft für eine Art Sirup <strong>aus</strong>zupressen.<br />

Nach Aufforderung durch die Wachm<strong>an</strong>nschaft mussten diese Rüben den Gef<strong>an</strong>genen zum Essen<br />

überlassen werden. Dabei kam es zum Gespräch mit den Frauen <strong>und</strong> den Umständen ihrer Verhaftung.<br />

Übrigens, solche gekochten Rüben schmecken scheußlich <strong>und</strong> sind fast ein Brechmittel!<br />

Alles in allem hatten wir immer wieder Glück in dieser gesetzlosen Zeit, wo wir jeder Willkür <strong>aus</strong>gesetzt<br />

waren <strong>und</strong> es nur zu Überleben galt. Wir waren durch die bisherigen Ereignisse eingeschüchtert<br />

<strong>und</strong> lebten in ständiger Angst. Ein typisches Beispiel dafür: Es war schon spät abends<br />

<strong>und</strong> sehr dunkel. Einige von uns waren noch einmal auf den Hof geg<strong>an</strong>gen. Sie sahen zwei Lichter<br />

auf uns zukommen. Aus einer <strong>an</strong>deren Richtung waren im Dunkeln zwei Schatten erkennbar. Alle<br />

wurden informiert <strong>und</strong> die Jüngeren, ich dabei, r<strong>an</strong>nten so schnell wir konnten in ein nahe gelegenes<br />

Wäldchen. Ich hatte in der häuslichen Dunkelheit meine Schuhe nicht gef<strong>und</strong>en <strong>und</strong> hatte nur<br />

Holzp<strong>an</strong>toffeln <strong>an</strong>. Im Wäldchen war es sumpfig <strong>und</strong> nass, <strong>an</strong>dauernd verlor ich bei diesen unwegsamen<br />

Bedingungen meine P<strong>an</strong>toffeln. Glücklicherweise f<strong>an</strong>d ich sie immer wieder. Vom Waldr<strong>an</strong>d<br />

beobachteten wir die weitere Entwicklung. Die Lichter verschw<strong>an</strong>den, aber die zwei Schatten nicht.<br />

Wir meinten sogar, dass sie sich weiter dem Gehöft näherten. Nach längerer Zeit im Wald wurde<br />

uns doch l<strong>an</strong>gsam klar, dass wir <strong>aus</strong> unserer stetigen Angst her<strong>aus</strong> einem Trugschluss unterlegen<br />

waren. Die Lichter, die wir sahen, stammten von Fahrzeugen, die in etwa zwei Kilometer Entfernung<br />

auf einer hochgelegenen Straße in Richtung L<strong>an</strong>dsberg fuhren. Die zwei Schatten waren Nadelbäume<br />

vom tief gelegenen Nachbargr<strong>und</strong>stück. Wir sahen nur die Baumspitzen, schl<strong>an</strong>k wirkend<br />

wie zwei Personen im Dunkeln. Die im H<strong>aus</strong> verbliebenen älteren Personen genossen ihren<br />

Schlaf.<br />

Von unserem Gr<strong>und</strong>stück bzw. der Anhöhe am „Russengrab“ <strong>aus</strong> beobachteten wir laufend die<br />

Bewegungen auf der Straße Hoofe-L<strong>an</strong>dsberg <strong>und</strong> im weiteren Umfeld. Wir wenigen Deutschen,<br />

die es noch gab, suchten ein<strong>an</strong>der <strong>und</strong> t<strong>aus</strong>chten Informationen <strong>aus</strong>. Häufig waren es nur<br />

Wunschged<strong>an</strong>ken in Hoffnung auf eine positive Zukunft. Von den sowjetischen Militärs hörten wir<br />

meist nur „Gitler kapuut.“ (Die Russen können das H nicht sprechen <strong>und</strong> nutzen dafür das G.)<br />

Bis etwa Ende März hörten wie immer noch Geschützdonner, konnten aber nicht zuordnen, wo genau<br />

der herkam. Da es zwei konst<strong>an</strong>te Richtungen westlich <strong>und</strong> nordwestlich von uns waren, vermuteten<br />

wir, dass es eingekesselte größere Städte sein müssten, die noch von der Wehrmacht<br />

gehalten wurden. Bald jedoch hörte d<strong>an</strong>n der Geschützdonner auf. Die Verteidiger der Städte hatten<br />

kapituliert oder m<strong>an</strong>gels Munition sind sie eingenommen worden. Lediglich der Kriegshafen Pillau<br />

fiel erst Ende April. Nur auf der südlichsten Spitze - der „Frischen Nehrung“ - hat sich noch ein<br />

kleiner Rest der deutschen Wehrmacht bis zur bedingungslosen Kapitulation Deutschl<strong>an</strong>ds, am 8.<br />

Mai 1945, gehalten.<br />

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