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Erinnerungen an Kindheit, Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen

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Lebenserinnerungen H<strong>an</strong>s-Siegfried Marks, Albrecht Dürer Str. 18, 06217 Merseburg, Tel. 03461-212739<br />

traditionellen Schnaps, war für mich Angst einflößend. Einen richtigen Gr<strong>und</strong> gab es dafür nicht,<br />

vielleicht reichte die für mich fremde Sprache <strong>aus</strong>. D<strong>an</strong>n st<strong>an</strong>d für mich fest: Mutter hat mich <strong>aus</strong>gesetzt!<br />

Sie nutzte dafür die Gelegenheit im Litauischen. Heulend setzte ich mich in Bewegung,<br />

Richtung Grenze. Meine kleine Seele heulte sicher mit. Ich lief auf Straßenmitte, da hatte ich nach<br />

beiden Seiten die günstigste <strong>Flucht</strong>dist<strong>an</strong>z, im Falle jem<strong>an</strong>d will mich auff<strong>an</strong>gen. Bald kam der<br />

Schlagbaum auf der litauischen Seite. Ich drunter durch. Auf der <strong>an</strong>deren Seite der Holzbrücke war<br />

der deutsche Schlagbaum. Auch hier drunter durch <strong>und</strong> weiter über den Markt laufend in Richtung<br />

Wohnung. Natürlich immer noch heulend. Die Grenzposten konnten gar nicht so schnell reagieren,<br />

wie ich mich absetzte. Unterwegs traf ich meinen älteren Bruder Erwin, der sich über das Geschehene<br />

köstlich amüsierte. Später kam d<strong>an</strong>n auch Mutter nach H<strong>aus</strong>e mit ihrem Einkauf <strong>und</strong> den Äpfeln.<br />

Sie fragte warum ich nicht gewartet habe.<br />

Auch hier eine kleine Ergänzung. Ich erwähnte, dass Feinsilbers eine jüdische Familie waren, bei<br />

denen m<strong>an</strong> gerne einkaufen ging. Nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Russl<strong>an</strong>d bzw. Litauen<br />

will jem<strong>an</strong>d Feinsilbers in einer zusammengetriebenen Gruppe Juden bei einem Abtr<strong>an</strong>sport in<br />

Eydtkau gesehen haben. Im Zusammenh<strong>an</strong>g mit der Judenverfolgung wäre das wahrscheinlich<br />

gewesen.<br />

Mir ist immer noch der 9. November 1938, die sogen<strong>an</strong>nte „Kristallnacht“, in Erinnerung. Einen<br />

Anblick, den ich noch vor Augen habe, ist die Schändung des jüdischen Gottesh<strong>aus</strong>es, der Synagoge,<br />

durch die Nazis bzw. die örtliche SA. Die Synagoge war nur wenig mehr als 100 Meter von<br />

unserer Schule entfernt. In der großen P<strong>aus</strong>e sind alle hin, um das Ereignis der Nacht zu sehen.<br />

Überall lagen Blätter <strong>und</strong> Gebetsbücher mit einer uns unbek<strong>an</strong>nten Schrift auf der Straße. Alles,<br />

was zerschlagen <strong>und</strong> vernichtet werden konnte, lag verstreut auf der Straße herum. Ein Mitschüler<br />

zeigte mir einen Einschuss in einer goldenen Kugel auf dem Dach. Er wusste wohl auch, wer da<br />

hineingeschossen hatte. Ich war gerade 7 Jahre alt <strong>und</strong> konnte keine Erklärung für dieses Ereignis<br />

finden, zumal zu H<strong>aus</strong>e keine abwertenden Gespräche über die Juden zu hören waren. Allerdings<br />

gehörten Hetzkampagnen gegen die jüdische Bevölkerung seit l<strong>an</strong>gem zum Alltag, so dass m<strong>an</strong><br />

das G<strong>an</strong>ze als Kind nicht überbewertet hat.<br />

Die Synagoge wurde abgerissen. Wegen ihres St<strong>an</strong>dortes direkt zwischen zwei Häusern konnte<br />

sie in der Kristallnacht nicht abgebr<strong>an</strong>nt werden. An dieser jetzt frei gewordenen Stelle entst<strong>an</strong>d<br />

eine Art Bauhof der Stadt. Ein Bretterzaun mit Tor verschloss die Baulücke.<br />

Ähnliches geschah mit dem jüdischen Friedhof. Wir konnten ihn von unserem Küchenfenster gut<br />

sehen. Er war durch eine große Mauer eingefriedet <strong>und</strong> es gab im Inneren viele große Bäume. Die<br />

Gräber wurden geschleift bzw. geschändet. Ein H<strong>aus</strong>nachbar, der bei der Stadt arbeitete <strong>und</strong> ein<br />

Dreirad-Kleintr<strong>an</strong>sporter fuhr, brachte einen Teil der gusseisernen Grabsteineinfassungen bzw.<br />

Zaunelemente für sich zur Eigenverwendung nach H<strong>aus</strong>e. Sie st<strong>an</strong>den sehr l<strong>an</strong>ge hinter der Mistkaule.<br />

Eine richtige Verwendung hatte er eigentlich nicht. Ein moralischer Zweifel kam in dieser<br />

Familie ohnehin nicht auf. So war einer der Söhne bei der „Schwarzen SS“. Später soll er sogar<br />

Aufseher in einem Konzentrationslager gewesen sein. Der jüdische Friedhof bzw. das Gelände<br />

wurde d<strong>an</strong>n ebenfalls als Lagerplatz genutzt.<br />

In unserer Familie wurde kaum über Politik gesprochen. M<strong>an</strong> war allgemein vorsichtig. Es gab überall<br />

nazitreue Nachbarn, die nichts für sich behielten. Unser direkter Flurnachbar war bei der SA.<br />

Er hatte sich kurz vor dem Krieg in der eigenen Wohnung erhängt, weil er wohl Geld <strong>aus</strong> der SA-<br />

Kasse entwendet hatte. Wenn ich <strong>an</strong> der Wohnungstür vorbeiging, hatte ich jahrel<strong>an</strong>g ein komisches<br />

Gefühl. Überhaupt war die Dist<strong>an</strong>z zu Toten <strong>aus</strong>geprägt groß. Aber irgendw<strong>an</strong>n sollte sich<br />

das ändern.<br />

Die Nachbarn unter uns waren sich in ihren politischen Positionen uneins. Sie waren beide Rentner<br />

<strong>und</strong> damit immer in der Wohnung mit stets offenen Ohren. Sie war in der Frauenschaft, einer<br />

politischen Org<strong>an</strong>isation des Dritten Reiches <strong>und</strong> Hitler war für sie der Größte, er dagegen war<br />

wohl nicht so g<strong>an</strong>z mit der herrschenden Politik <strong>und</strong> den Geschehnissen einverst<strong>an</strong>den. Ein Beispiel<br />

dafür: Sol<strong>an</strong>ge die Deutsche Wehrmacht im Vormarsch war, gab es täglich zu den offiziellen<br />

Nachrichten auch noch zusätzlich Sondermeldungen im Radio. Natürlich über immer wieder ein-<br />

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