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Erinnerungen an Kindheit, Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen

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mit einer großen Splitterwirkung explodierten. Das sind Minibomben, wie sie eigentlich von den<br />

leichten Gr<strong>an</strong>atwerfern abgeschossen werden. Unsere Mission war erfüllt <strong>und</strong> es ging zurück nach<br />

Gerwen.<br />

In Gerwen verlief der Alltag noch in scheinbarer Ruhe <strong>und</strong> die Bauern gingen ihrer üblichen Arbeit<br />

nach. Die kommende Nacht sollte uns aber die Gefahr bewusst machen. Die sowjetische Luftwaffe<br />

flog wieder einmal einen Angriff auf Insterburg, Luftlinie reichlich 15 Kilometer entfernt. Durch starke<br />

Luftabwehr luden nicht wenige Flugzeuge ihre Bomben auch in unserem Gebiet ab. Es krachte<br />

ringsum <strong>und</strong> nachts schien das noch viel lauter als am Tag. Wir wurden verschont <strong>und</strong> konnten<br />

den Keller, der sicher kaum Schutz geboten hätte, unbeschadet verlassen.<br />

D<strong>an</strong>n sollte es zurück nach Reddenau gehen. Als wir früh aufst<strong>an</strong>den, hörten wir <strong>aus</strong> der Ferne ein<br />

ununterbrochenes Grollen. Es war der 16. Oktober 1944. Mit einem l<strong>an</strong>g <strong>an</strong>haltenden Trommelfeuer<br />

wurde von sowjetischer Seite eine Offensive eingeleitet, es beg<strong>an</strong>n das Überschreiten der<br />

Reichsgrenze <strong>und</strong> bedeutete eine moralische Niederlage für die Deutsche Wehrmacht. Die Lok<br />

des bereitstehenden Bergungszuges auf dem Bahnhof in Eydtkau erhielt gleich zu Beginn des Angriffs<br />

einen Artillerie-Volltreffer <strong>und</strong> die <strong>Flucht</strong> vor der her<strong>an</strong>nahenden Sowjetarmee beg<strong>an</strong>n zu Fuß<br />

in Richtung Ebenrode, der Kreisstadt. Dem Lokführer, der noch Deckung gesucht hatte, riss es den<br />

Kopf ab, erzählte m<strong>an</strong>. Vater <strong>und</strong> Helmut flüchteten getrennt. Vater hatte Dienst auf der Blockstelle<br />

in Altbruch, wo er bereits früher oft Dienst tat. Das war für ihn schon die halbe Strecke nach Ebenrode.<br />

Seinen Überlebenskoffer hatte er auch dabei <strong>und</strong>, es klingt wie ein Scherz, seine Geige. Er<br />

konnte recht gut Geige spielen.<br />

Für Helmut war das ein Abenteuer. So hat er uns das zumindest <strong>aus</strong>gemalt <strong>und</strong> <strong>aus</strong>führlich erzählt,<br />

vielleicht auch mit einer seiner typisch jugendlichen Übertreibungen. Nachdem der Angriff<br />

wieder zum Stehen kam, allerdings auf deutschem Gebiet, musste Vater wieder zurück. Er war<br />

d<strong>an</strong>n auf dem letzten funktionsfähigen Bahnhof vor der Front, westlich von Gumbinnen. Die Front<br />

verlief im westlichen Kreisgebiet, in der Nähe des weltbek<strong>an</strong>nten Gestüts Trakehnen. Bei diesem<br />

Groß<strong>an</strong>griff wurde Eydtkau nördlich umg<strong>an</strong>gen <strong>und</strong> nicht durch Kampfh<strong>an</strong>dlungen zerstört. Der Artilleriebeschuss<br />

galt zielgerichtet dem Bahnhof. Helmut blieb eine kurze Zeit bei uns in Reddenau<br />

<strong>und</strong> arbeitete d<strong>an</strong>ach auf dem Bahnhof in Bartenstein. Richtig müsste es heißen, „er setzte seine<br />

Lehre fort“, es war ja erst der Anf<strong>an</strong>g des zweiten Ausbildungsjahres. Aber was hieß in dieser Zeit<br />

schon Ausbildung?<br />

Nun zu Helmuts abenteuerlicher <strong>Flucht</strong>, die uns Jungs in Reddenau tief beeindruckte. Helmut<br />

schilderte sehr <strong>an</strong>schaulich wie die Offensive der Sowjetarmee am 16. Oktober 1944 beg<strong>an</strong>n <strong>und</strong><br />

dass trotz des Beschusses des Bahnhofs nur wenig Opfer zu beklagen waren. Auch das Bahnhofsgebäude<br />

blieb im Wesentlichen unbeschädigt. Der Treffer des Bergungszuges war sicher gezielt,<br />

aber die Eisenbahner konnten sich nach dem Gr<strong>und</strong>satz „Rette sich wer k<strong>an</strong>n“ in Richtung<br />

Ebenrode, 11 Kilometer entfernt, absetzen. Sie schleppten dabei einen Schwerverw<strong>und</strong>eten mit,<br />

der aber auf dem Weg verstarb. Die <strong>Flucht</strong> geschah nicht als geschlossener Verb<strong>an</strong>d, sondern unorg<strong>an</strong>isiert<br />

nach eigenem Ermessen <strong>und</strong> persönlicher Erfahrung. Die Jungs bzw. Auszubildenden,<br />

alle um die 15 Jahre alt, versuchten zusammenzubleiben. Das gab ein Gefühl der Sicherheit. Als<br />

sie d<strong>an</strong>n meinten, weit genug weg zu sein <strong>und</strong> genügend Abst<strong>an</strong>d zur Front zu haben, suchte m<strong>an</strong><br />

nach etwas Essbarem. Federvieh war genug vorh<strong>an</strong>den <strong>und</strong> G<strong>an</strong>s am Spieß müsste etwas Besonderes<br />

sein. Und so wurde die nächstbeste G<strong>an</strong>s gef<strong>an</strong>gen <strong>und</strong> für den Spieß am Feuer aufbereitet.<br />

Die erforderliche Technik <strong>und</strong> das Feuer waren kein Problem. Seiner Schilderung nach muss<br />

es gut gem<strong>und</strong>et haben, denn als er uns davon erzählte, schien er sich immer noch den M<strong>und</strong> zu<br />

lecken.<br />

Für uns Eydtkauer Jungs, die wir in Reddenau sehr oft zusammen waren, galt nur noch eins: Irgendetwas<br />

muss am Spieß gebraten werden. Nach kurzer Zeit entschieden wir uns für Tauben.<br />

Einer meinte sofort: „Unser Bauer hat welche, die brüten im Kuhstall. Zählen lassen die sich nicht<br />

<strong>und</strong> ein Verlust fällt mit Sicherheit nicht auf.“ Am nächsten Tag startete das Unternehmen „Taube<br />

am Spieß“. Wir waren zu dritt. Die Strategie: Einer sichert die Halbdist<strong>an</strong>z zum Gehöft, der zweite<br />

sichert das unmittelbare Umfeld zum Stall. Der dritte, der bei dem Bauern einquartiert war, k<strong>an</strong>nte<br />

sich ja gut <strong>aus</strong> <strong>und</strong> es hätte auch niem<strong>an</strong>d von der Bauernfamilie Verdacht geschöpft. Ich hatte die<br />

sicherste Position, ich war am weitesten vom Gr<strong>und</strong>stück entfernt.<br />

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