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Erinnerungen an Kindheit, Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen

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Lebenserinnerungen H<strong>an</strong>s-Siegfried Marks, Albrecht Dürer Str. 18, 06217 Merseburg, Tel. 03461-212739<br />

Wenn ich bei Onkel Rudolf <strong>und</strong> T<strong>an</strong>te Anna war, spürte ich ständig Sp<strong>an</strong>nungen zwischen den<br />

beiden. Einmal musste ich sogar erleben, wie es zu einer Prügelei kam <strong>und</strong> T<strong>an</strong>te Anna mit einem<br />

Milcheimer um sich geschlagen bzw. sich gewehrt hat. D<strong>an</strong>ach sah ich sie <strong>an</strong> diesem Tag nicht<br />

mehr. Onkel Rudolf improvisierte für uns beide das Abendbrot <strong>und</strong> tat so, als wäre nichts gewesen.<br />

Ich fühlte mich wie zwischen zwei Mühlsteine geraten <strong>und</strong> wäre lieber nach H<strong>aus</strong>e gefahren, aber<br />

das ging ja nicht. Die Ironie des g<strong>an</strong>zen war, dass T<strong>an</strong>te Anna das Vermögen <strong>und</strong> die Gr<strong>und</strong>lagen<br />

für den Erwerb dieses Gr<strong>und</strong>stückes in die Ehe eingebracht <strong>und</strong> d<strong>an</strong>n nichts mehr zu sagen <strong>und</strong> zu<br />

entscheiden hatte. Sie war faktisch nur noch Magd im eigenen H<strong>aus</strong>. Wenn sie mal irgendwo hinfahren<br />

wollte <strong>und</strong> Pferd <strong>und</strong> Wagen benötigte, wurde ihr das verweigert. Sie musste die Hilfe der<br />

Nachbarn in Anspruch nehmen. Onkel Rudolf war so etwas nie peinlich.<br />

T<strong>an</strong>te Anna war ein g<strong>an</strong>z liebenswerter, hilfsbereiter <strong>und</strong> <strong>an</strong>passungsfähiger Mensch. Sie hatte<br />

noch sehr jung in erster Ehe ihren M<strong>an</strong>n verloren <strong>und</strong> war dadurch Alleinerbin eines <strong>an</strong>sehnlichen<br />

Gr<strong>und</strong>stückes. D<strong>an</strong>n lernte sie Rudolf Marks kennen. Er war ein richtiger Grobi<strong>an</strong> <strong>und</strong> ein schnell<br />

aufbr<strong>aus</strong>endender Mensch, der zwei Gesichter hatte. Bei der Brautwerbung zeigte er gekonnt sein<br />

sch<strong>aus</strong>pielerisches Talent, zumindest so l<strong>an</strong>ge, bis er sein Ziel erreicht hatte. Onkel Rudolfs besonderes<br />

Anliegen war Pferde zu züchten. Natürlich waren es „Trakehner“, mit denen m<strong>an</strong> viel<br />

Geld verdienen konnte.<br />

Mit unserem Vater verst<strong>an</strong>d er sich gut <strong>und</strong> er hat unsere Familie stets unterstützt. Vor allem im<br />

Krieg bekamen wir den größten Teil unseres Futters für unser Schwein <strong>und</strong> das Kleinvieh von ihm.<br />

Er ist dabei ein großes Risiko eingeg<strong>an</strong>gen, so etwas war streng verboten, denn bis auf den Eigenbedarf<br />

musste alles abgeliefert werden. M<strong>an</strong> konnte auch Getreide nicht selbst verschroten,<br />

obwohl die größeren Bauern oft eine eigene Mühle hatten. Solche <strong>und</strong> ähnliche Geräte wurden<br />

verplombt <strong>und</strong> es wagte sich kaum einer so eine Plombe zu entfernen. Aber irgendwie f<strong>an</strong>d m<strong>an</strong><br />

Möglichkeiten, denn wir bekamen auch Schrot.<br />

Zu Onkel Rudolfs Unterstützung uns gegenüber k<strong>an</strong>n ich mich <strong>an</strong> folgendes Beispiel erinnern. Es<br />

könnte 1942 gewesen sein. Ich war wieder einmal in Gerwen. Von Onkel Rudolf bekam ich eines<br />

Tages den Auftrag eine größere Menge Äpfel zu pflücken. Es war mehr als ein halber Sack voll.<br />

„Morgen geht’s nach H<strong>aus</strong>e, aber nicht mit dem Zug“, meinte er. Wir fahren mit dem Pferdewagen<br />

nach Eydtkau. Aber wir fahren nur die halbe Strecke. Dein Vater kommt uns auch mit einem Pferdewagen<br />

entgegen <strong>und</strong> d<strong>an</strong>n geht es für dich weiter. Vater hatte sich Pferd <strong>und</strong> Wagen von unserem<br />

bek<strong>an</strong>nten Bauern Klotzbücher <strong>aus</strong> Kinderweiten geliehen. Das mussten meine Eltern natürlich<br />

wieder abarbeiten. Umsonst gibt’s beim Bauern nichts. Er ist immer der Profitierende. Der T<strong>an</strong>te<br />

Anna hatte er nichts von seinem Vorhaben erzählt. Ein Ausdruck des unharmonischen Mitein<strong>an</strong>ders.<br />

Onkel Rudolf hatte den Wagen schon mit mehreren Säcken Futtergetreide bzw. Schrot beladen,<br />

dazu gebündelt eine größere Menge Bretter. Er hatte schon vor längerer Zeit in seinem<br />

Wald einen Baum gefällt <strong>und</strong> in einem Sägewerk zu Brettern schneiden lassen. Vater hatte vor einen<br />

winterfesten Schuppen für unsere K<strong>an</strong>inchen zu bauen. Der sollte so groß sein, dass auch der<br />

Wintervorrat Heu darin untergebracht werden konnte.<br />

Am nächsten Tag ging’s schon sehr früh los <strong>und</strong> wir trafen uns etwa zur Mittagszeit. Jeder hatte<br />

eine Strecke von etwa 25 Kilometer zurückzulegen. Etwas abseits der Straße wurde <strong>an</strong> sichtgeschützter<br />

Stelle umgeladen <strong>und</strong> nun ging’s in Richtung Eydtkau, also nach H<strong>aus</strong>e. Onkel Rudolf<br />

fuhr zurück. Um dieses verbotene Vorhaben abzusprechen <strong>und</strong> vorzubereiten, ist Vater extra mit<br />

entsprechendem Zeitvorlauf mit dem Fahrrad zu Onkel Rudolf nach Gerwen gefahren. Für mich<br />

war das unvorstellbar, eine solche Strecke mit dem Fahrrad zu bewältigen. Doch so eine verbotene<br />

Sache konnte m<strong>an</strong> zu jener Zeit nicht schriftlich fixieren.<br />

Ein letztes Beispiel, das repräsentativ für den Charakter des schnell aufbr<strong>aus</strong>enden Onkels war:<br />

Wir waren gerade in Gerwen zur Übernachtung, als er im Oktober 1944 den Einberufungsbefehl<br />

zur Wehrmacht bekam. Er war damals schon über 50 Jahre alt, es gab kaum noch jüngere Jahrgänge,<br />

die einberufen werden konnten. Als der Brief kam mit der Anschrift „Unteroffizier“ Rudolf<br />

Marks, spielte er mal wieder verrückt. Letztlich war er im 1. Weltkrieg als Unterfeldwebel von der<br />

kaiserlichen Armee entlassen worden <strong>und</strong> nun eine solche Anrede! Das kam fast einer Degradierung<br />

gleich. Und das hatte ja auch der Briefträger gelesen. Anzumerken ist, dass der Dienstgrad<br />

„Unterfeldwebel“ bei der Wehrmacht nicht üblich war. Es ging immer vom Unteroffizier zum Feld-<br />

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