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Erinnerungen an Kindheit, Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen

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chen unbefriedigt davon, blieben aber weiterhin wachsam!<br />

Noch ein Aspekt zum Denunzieren <strong>und</strong> zum Schweigen zu den Tages- <strong>und</strong> Frontereignissen. Die<br />

Menschen waren sich bewusst, dass sich die Front immer weiter zurück bewegte, aber sie schien<br />

für uns noch sehr weit weg. Die Züge rollten mit Militärtechnik wie bisher gen Osten. Allerdings sah<br />

m<strong>an</strong> nicht mehr sehr viele Flugzeuge, zumindest nicht als Kampfverbände. Meist waren es einzelne<br />

Flugzeuge verschiedener Typen. Hinter vorgehaltener H<strong>an</strong>d hat m<strong>an</strong> doch seine Meinung offen<br />

<strong>aus</strong>get<strong>aus</strong>cht. Allerdings nur mit solchen Personen, die m<strong>an</strong> wirklich k<strong>an</strong>nte <strong>und</strong> sich sicher war,<br />

dass nichts weitergesagt wurde. Auch wir Kinder bekamen das mit. Eines Tages hieß es, <strong>aus</strong> der<br />

ersten Reihe eines der Nachbarhäuser hätte m<strong>an</strong> den „H<strong>aus</strong>m<strong>an</strong>n“ (sein tatsächlicher Name) abgeholt.<br />

Er hätte laut im Suff über Staat <strong>und</strong> Politik geschimpft. „Es war auch irgendw<strong>an</strong>n zu erwarten,<br />

er wäre ja früher Kommunist gewesen.“ M<strong>an</strong> sagte ihm auch nach, dass seine Kehle immer<br />

unruhig wurde, wenn er nichts zu trinken hatte. Das war die eine Version, die <strong>an</strong>dere war, dass ihn<br />

ein Litauer denunziert haben soll. Es wäre ein litauischer Arbeitskollege bei der Reichsbahn gewesen.<br />

Nach gar nicht l<strong>an</strong>ger Zeit kam wohl eine Sterbeurk<strong>und</strong>e, dass er <strong>an</strong> Lungenentzündung verstorben<br />

sei. Ich schnappte in einem Gespräch von Nachbarn auf, wie jem<strong>an</strong>d sagte: „Er ist <strong>an</strong> politischer<br />

Lungenentzündung gestorben.“ Für mich war diese Diagnose irgendwie unverständlich <strong>und</strong><br />

ich fragte Mutter, was das ist. Sie zuckte wie häufig mit den Schultern. Eine Antwort bekam ich<br />

nicht. Aber dass er irgendwie umgebracht worden sein musste, reimte ich mir d<strong>an</strong>n doch zusammen.<br />

Und noch so eine politisch für mich <strong>und</strong>efinierbare Begebenheit regte mich zum Nachdenken <strong>an</strong>.<br />

Ein etwas älterer Jugendlicher <strong>aus</strong> unserer Reihe lernte in Elbing in der „Schichauwerft“. Diese<br />

Werft war mir auch schon bek<strong>an</strong>nt als eine Werft, wo vorwiegend kleinere Kriegsschiffe gebaut<br />

wurden, wahrscheinlich Minen- <strong>und</strong> Torpedoboote. Er war nur <strong>an</strong> den Wochenenden zu H<strong>aus</strong>e <strong>und</strong><br />

einmal, es müsste sich 1943 abgespielt haben, erzählte er Folgendes: In der Werft gäbe es Sabotageakte<br />

durch eine „Clique Baum<strong>an</strong>n“. Es wäre sogar zu Schießereien gekommen. Und diese<br />

Clique hätte relativ viele Anhänger gef<strong>und</strong>en. Für mich schien das kaum möglich in diesem alles<br />

beherrschendem System mit seinen Machtinstrumenten. Nach dem Krieg las ich d<strong>an</strong>n doch, dass<br />

es dort eine Widerst<strong>an</strong>dsbewegung gegeben hatte.<br />

1944 wurde ein Schicksalsjahr, oder <strong>an</strong>ders gesagt, es leitete die <strong>Flucht</strong> <strong>und</strong> <strong>Vertreibung</strong> ein. Obwohl<br />

immer mehr Großstädte im Reichsgebiet mit Fliegeralarm <strong>und</strong> den nächtlichen Bombardements<br />

leben mussten <strong>und</strong> viele Menschen ihr Leben ließen, lebten wir in <strong>Ostpreußen</strong> immer noch<br />

sehr ruhig <strong>und</strong> gut versorgt. Aber damit war es bald vorbei. Der Rückzug der Wehrmacht <strong>und</strong> das<br />

immer schnellere Vorrücken der Roten Armee wurde offensichtlich <strong>und</strong> lösten Angstgefühle <strong>und</strong><br />

Unsicherheit für die nahe Zukunft <strong>aus</strong>. Das wurde u. a. sichtbar, als wieder Trecks <strong>aus</strong> den baltischen<br />

Ländern, insbesondere <strong>aus</strong> Litauen, zu uns über die Grenze kamen. Es schien die gleiche<br />

Situation wie 1940 bzw. 1941 in Vorbereitung des Überfalls auf die Sowjetunion zu sein. Aber<br />

diesmal war etwas <strong>an</strong>ders: Es war die lebensrettende <strong>Flucht</strong> ins Ungewisse ohne Ch<strong>an</strong>ce für eine<br />

Rückkehr zu H<strong>aus</strong> <strong>und</strong> Hof.<br />

Die Trecks, meist P<strong>an</strong>jewagen mit kleinen Pferden, kamen mit g<strong>an</strong>zen Familien. Häufig wurden<br />

Kühe mitgeführt, <strong>an</strong>geb<strong>und</strong>en <strong>an</strong> den Wagen. Alles wirkte unorg<strong>an</strong>isiert, wie eine tatsächliche<br />

<strong>Flucht</strong> vor der her<strong>an</strong>nahenden Front. Es gab eine Anordnung, dass die Trecks nicht weiter ins<br />

Reich fahren durften. Das G<strong>an</strong>ze endete also hier bei uns in Eydtkau. Die Familien mussten ihre<br />

Habe in Züge verladen <strong>und</strong> konnten so ins Reichsgebiet weiterreisen. Auf Achenbachs Wiesen, also<br />

gleich hinter unseren Häusern, wurde <strong>aus</strong>gesp<strong>an</strong>nt <strong>und</strong> die Pferde <strong>und</strong> Kühe in der Koppel frei<br />

gelassen. Die Übergabe der Pferde wurde mit einem „Stück Papier“ bescheinigt. Wehrmachts<strong>an</strong>gehörige<br />

in weißem Kittel, sicher richtige Veterinäre, nahmen den Pferden Blut ab. In unserer kindlichen<br />

Vorstellung meinten wir, dass m<strong>an</strong> die besten Pferde für die Zucht her<strong>aus</strong>suchen wolle.<br />

Für uns Jungs waren die Pferde ein besonderes abenteuerliches Freizeiterlebnis. Wir, die Mutigsten,<br />

suchten uns die am besten <strong>aus</strong>sehenden <strong>aus</strong> <strong>und</strong> versuchten sie zu reiten. Allerdings gab es<br />

weder Zaumzeug noch Sattel <strong>und</strong> nicht selten wurden wir abgeworfen. Aber in unserem Alter l<strong>an</strong>det<br />

m<strong>an</strong> mit kindlicher Beweglichkeit meist weich. Es gab kaum Unfälle. Das Cowboyleben ging<br />

aber nicht l<strong>an</strong>ge gut. Die Polizei beendete bald unsere Abenteuer. Als Belohnung gab es Prügel.<br />

Ich wurde bei diesen Aktionen nicht erwischt. Die Frauen gingen die Kühe melken. Das wurde ge-<br />

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